Verbrauchte Zukunftsbilder?

Max Klinger, ein Künstler der Wendezeit um 1900

„Das überwältigend Gedankliche und die Beherrschung der plastischen Form reißen uns mit fort, so dass keine Besinnung übrig bleibt, das Stilistische einzuschätzen“, urteilt Curt Glaser 1923 („Die Grafik der Neuzeit“) über Max Klinger. Der Künstler ist gerade drei Jahre tot und schon in Vergessenheit geraten. Seine Büsten und Statuen verstauben in Museumsmagazinen. Nur Kenner wissen noch um die Kunstfertigkeit des „peintre graveur“, welcher der Grafik in Deutschland zu neuer Blüte verholfen und breite Sammlerinteressen geweckt hatte. Seine bevorzugten Sujets: Menschen und ihre Sehnsucht, ihre Leidenschaft und Liebe, Erotik und Tod. Frühe Radierzyklen mit sozialkritischen Inhalten machten ihn berühmt. Für seine kritischen Reflexe auf die sexualfeindliche Doppelmoral der Kaiserzeit wurde der Künstlerstar mit Ateliers in Leipzig, Paris und Rom angefeindet, aber das beeindruckte ihn wenig, galt er doch über ein Vierteljahrhundert nicht nur Bohemiens wie Harry Graf Kessler als „eines der größten lebenden Genies“. Alfred Lichtwark etwa begeisterte sich für Klingers Modernität und „originelle Phantastik“.

Seine Beherrschung der plastischen Form – hier ein Detail der „neuen Salomé“ – ließ Max Klinger ganz auf die „Andeutungskraft“ verzichten und führte, wie Curt Glaser darlegt, zu „einer schwer erträglichen trivialen Gespreiztheit“. Foto: af
Seine Beherrschung der plastischen Form – hier ein Detail der „neuen Salomé“ – ließ Max Klinger ganz auf die „Andeutungskraft“ verzichten und führte, wie Curt Glaser darlegt, zu „einer schwer erträglichen trivialen Gespreiztheit“. Foto: af

„Seine fast schon irrationale Wertschätzung im Kunstbetrieb des auslaufenden neunzehnten Jahrhunderts lässt sich heute kaum noch nachvollziehen“, wendet der Kunstwissenschaftler Gerhard Storck 1999 ein. Im Katalog zur Ausstellung „Verlorene Zeit – aus einer Sammlung um 1900“ im Kaiser-Wilhelm-Museum Krefeld stellt er fest, das gesamte Werk Klingers sei das Paradebeispiel eines Künstlers, dem man einen besonderen historischen Stellenwert zubilligen müsse, weil in seinen Arbeiten Themenbereiche angeschnitten seien, die erst später durch eine Änderung der Darstellungsmittel und Akzentverschiebungen Bedeutung erlangt hätten.

Vorauseilende Gedanken seien gerade in der Wendezeit um 1900 keine Seltenheit gewesen. Weil sie sich traditioneller Bildformen bedienten, verkehrte der Kern der Botschaft sich ins Gegenteil. Alle Bereiche der Kultur waren erfüllt von einer großen Sehnsucht nach geistiger Erneuerung. Klinger verstand es, diese Sehnsucht zu illustrieren, erfüllen konnte er sie nicht, konstatierten die damals führenden Kunstkritiker. Curt Glaser kritisiert Klinger, dass er sich nicht dem Material selbst überlasse, um aus ihm die spezifischen Wirkungen zu ziehen, sondern die Möglichkeiten der Technik vorausbestimmten Zwecken unterordne.
Erst nach dem zweiten Weltkrieg entdeckte man Klinger wieder und erkannte, wie naturalistische und symbolistische Impulse seines Werks die europäische Kunst um 1900 und der folgenden Dekaden beeinflusst hatten. Für Giorgio de Chirico etwa war Klinger der moderne Künstler schlechthin. „Das kaum Geahnte“ und die „dunkle Seite des Lebens“ beschreibt Klinger selbst als Inhalte seines grafischen Werks, und genau dieser Alpträume und Traumkreaturen bediente sich Max Ernst in Collageromanen wie „Une semaine de bonté“.

Diese an verbrauchten Formen festgemachten „Zukunftsbilder“ hält Gerhard Storck dagegen, demonstrierten vor allem, „dass Traumgebilde sich anders entwickeln als in gestochen scharfen Umrißlinien.“

Die gerade beendete Retrospektive Im Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg präsentierte eine umfassenden Klinger-Schau aus den Beständen der Privatsammlung Siegfried Unterberger, gegenüber gestellt Werken des jungen Lehmbruck  aus der eigenen Museumssammlung, die den starken Einfluss Klingers deutlich machen.

Auf Sockeln, über Blickhöhe des Betrachters entfalteten diese aus hellem oder dunkel glänzendem Stein oder Metall geschnittenen Porträtbüsten und Statuen, die antike Gottheiten oder Figuren aus der Bibel darstellen, einen eigenartigen Reiz: Antike Vorbilder sind in Haltung und Gestus der Klingerschen Schöpfungen anwesend, die Abweichungen aber führen umso deutlicher ihre Modernität vor Augen. Klinger hing der Idee des Gesamtkunstwerks an, und brachte seine Affinität zu Musik, Literatur und Philosophie auch bildkünstlerisch zu Ausdruck, in dem er etwa Beethoven und Nietzsche Büsten widmete. Für Freunde und Großbürgertum gestaltet er Ex Libris.

Informationen auf  www.mv-naumburg.de/museen/klingerhaus