Reflexionen aus dem beschädigten Leben

Für Max

als Dank und Versprechen

Zueignung

Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen. Redet man unmittelbar vom Unmittelbaren, so verhält man kaum sich anders als jene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mit billigem Schmuck mit den Imitationen der Leidenschaft von ehedem behängen, und Personen, die nichts mehr sind als Bestandstücke der Maschinerie, handeln lassen, als ob sie überhaupt noch als Subjekte handeln könnten, und als ob von ihrem Handeln etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist übergegangen in die Ideologie, die darüber betrügt, daß es keines mehr gibt.

Aber das Verhältnis von Leben und Produktion, das jenes real herabsetzt zur ephemeren Erscheinung von dieser, ist vollendet widersinnig. Mittel und Zweck werden vertauscht. Noch ist die Ahnung des aberwitzigen quid pro quo aus dem Leben nicht gänzlich ausgemerzt. Das reduzierte und degradierte Wesen sträubt sich zäh gegen seine Verzauberung in Fassade. Die Änderung der Produktionsverhältnisse selber hängt weithin ab von dem, was sich in der »Konsumsphäre«, der bloßen Reflexionsform der Produktion und dem Zerrbild wahren Lebens, zuträgt: im Bewußtsein und Unbewußtsein der Einzelnen. Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion, als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßte, können die Menschen eine menschenwürdigere herbeiführen. Wird einmal der Schein des Lebens ganz getilgt sein, den die Konsumsphäre selbst mit so schlechten Gründen verteidigt, so wird das Unwesen der absoluten Produktion triumphieren.

Trotzdem bleibt so viel Falsches bei Betrachtungen, die vom Subjekt ausgehen, wie das Leben Schein ward. Denn weil in der gegenwärtigen Phase der geschichtlichen Bewegung deren überwältigende Objektivität einzig erst in der Auflösung des Subjekts besteht, ohne daß ein neues schon aus ihr entsprungen wäre, stützt die individuelle Erfahrung notwendig sich auf das alte Subjekt, das historisch verurteilte, das für sich noch ist, aber nicht mehr an sich. Es meint seiner Autonomie noch sicher zu sein, aber die Nichtigkeit, die das Konzentrationslager den Subjekten demonstrierte, ereilt bereits die Form von Subjektivität selber. Der subjektiven Betrachtung, sei sie auch kritisch gegen sich geschärft, haftet ein Sentimentales und Anachronistisches an: etwas von der Klage über den Weltlauf, die nicht um seiner Güte willen zu verwerfen wäre, sondern weil das klagende Subjekt sich in seinem Sosein zu verhärten droht und damit wiederum das Gesetz des Weltlaufs zu erfüllen. Die Treue zum eigenen Stand von Bewußtsein und Erfahrung ist allemal in Versuchung, zur Treulosigkeit zu mißraten, indem sie die Einsicht verleugnet, welche übers Individuum hinausgreift und dessen Substanz selber beim Namen ruft.

So hat Hegel, an dessen Methode die der Minima Moralia sich schulte, gegen das bloße Fürsichsein der Subjektivität auf all ihren Stufen argumentiert. Die dialektische Theorie, abhold jeglichem Vereinzelten, kann denn auch Aphorismen als solche nicht gelten lassen. Im freundlichsten Falle dürften sie, nach dem Sprachgebrauch der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, toleriert werden als »Konversation«. Deren Zeit aber ist um. Gleichwohl vergißt das Buch nicht sowohl den Totalitätsanspruch des Systems, das nicht dulden möchte, daß man aus ihm herausspringt, als daß es dagegen aufbegehrt. Hegel hält sich dem Subjekt gegenüber nicht an die Forderung, die er sonst leidenschaftlich vorträgt: die, in der Sache zu sein und nicht »immer darüber hinaus«, anstatt »in den immanenten Inhalt der Sache einzugehen«. Verschwindet heute das Subjekt, so nehmen die Aphorismen es schwer, daß »das Verschwindende selbst als wesentlich zu betrachten« sei. Sie insistieren in Opposition zu Hegels Verfahren und gleichwohl in Konsequenz seines Gedankens auf der Negativität: »Das Leben des Geistes gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.«

Die erledigende Gebärde, mit welcher Hegel im Widerspruch zur eigenen Einsicht stets wieder das Individuelle traktiert, rührt paradox genug her von seiner notwendigen Befangenheit in liberalistischem Denken. Die Vorstellung einer durch ihre Antagonismen hindurch harmonischen Totalität nötigt ihn dazu, der Individuation, mag immer er sie als treibendes Moment des Prozesses bestimmen, in der Konstruktion des Ganzen einzig minderen Rang zuzuerkennen. Daß in der Vorgeschichte die objektive Tendenz über den Köpfen der Menschen, ja vermöge der Vernichtung des Individuellen sich durchsetzt, ohne daß bis heute die im Begriff konstruierte Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem geschichtlich vollbracht wäre, verzerrt sich bei ihm: mit überlegener Kälte optiert er nochmals für die Liquidation des Besonderen. Nirgends wird bei ihm der Primat des Ganzen bezweifelt. Je fragwürdiger der Übergang von der reflektierenden Vereinzelung zur verherrlichten Totalität wie in der Geschichte so auch in der Hegelschen Logik bleibt, desto eifriger hängt Philosophie, als Rechtfertigung des Bestehenden, sich an den Triumphwagen der objektiven Tendenz. Die Entfaltung eben des gesellschaftlichen Individuationsprinzips zum Sieg der Fatalität bietet ihr dazu Anlaß genug. Indem Hegel die bürgerliche Gesellschaft sowohl wie deren Grundkategorie, das Individuum, hypostasiert, hat er die Dialektik zwischen beiden nicht wahrhaft ausgetragen. Wohl gewahrt er, mit der klassischen Ökonomik, daß die Totalität selbst aus dem Zusammenhang der antagonistischen Interessen ihrer Mitglieder sich produziert und reproduziert. Aber das Individuum als solches gilt ihm weithin, naiv, für die irreduzible Gegebenheit, die er in der Erkenntnistheorie gerade zersetzt. In der individualistischen Gesellschaft jedoch verwirklicht nicht nur das Allgemeine sich durchs Zusammenspiel der Einzelnen hindurch, sondern die Gesellschaft ist wesentlich die Substanz des Individuums.

Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der individuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte, während umgekehrt die großen historischen Kategorien nach all dem, was mittlerweile mit ihnen angestiftet ward, vorm Verdacht des Betrugs nicht mehr sicher sind. In den hundertundfünfzig Jahren, die seit Hegels Konzeption vergingen, ist von der Gewalt des Protests manches wieder ans Individuum übergegangen. Verglichen mit der altväterischen Kargheit, die dessen Behandlung bei Hegel charakterisiert, hat es an Fülle, Differenziertheit, Kraft ebensoviel gewonnen, wie es andererseits von der Vergesellschaftung der Gesellschaft geschwächt und ausgehöhlt wurde. Im Zeitalter seines Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums von sich und dem, was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv sich auslegte. Angesichts der totalitären Einigkeit, welche die Ausmerzung der Differenz unmittelbar als Sinn ausschreit, mag temporär etwas sogar von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre des Individuellen sich zusammengezogen haben. In ihr verweilt die kritische Theorie nicht nur mit schlechtem Gewissen.

All das soll das Anfechtbare des Versuchs nicht verleugnen. Ich habe das Buch großenteils noch während des Krieges geschrieben, unter Bedingungen der Kontemplation. Die Gewalt, die mich vertrieben hatte, verwehrte mir zugleich ihre volle Erkenntnis. Ich gestand mir noch nicht die Mitschuld zu, in deren Bannkreis gerät, wer angesichts des Unsäglichen, das kollektiv geschah, von Individuellem überhaupt redet.

In den drei Teilen wird jeweils ausgegangen vom engsten privaten Bereich, dem des Intellektuellen in der Emigration. Daran schließen sich Erwägungen weiteren gesellschaftlichen und anthropologischen Umfangs; sie betreffen Psychologie, Ästhetik, Wissenschaft in ihrem Verhältnis zum Subjekt. Die abschließenden Aphorismen jeden Teils führen auch thematisch auf die Philosophie, ohne je als abgeschlossen und definitiv sich zu behaupten: alle wollen Einsatzstellen markieren oder Modelle abgeben für kommende Anstrengung des Begriffs.

Den unmittelbaren Anlaß zur Niederschrift bot der fünfzigste Geburtstag Max Horkheimers am 14. Februar 1945. Die Ausführung fiel in eine Phase, in der wir, äußeren Umständen Rechnung tragend, die gemeinsame Arbeit unterbrechen mußten. Dank und Treue will das Buch bekunden, indem es die Unterbrechung nicht anerkennt. Es ist Zeugnis eines dialogue intérieur: kein Motiv findet sich darin, das nicht Horkheimer ebenso zugehörte wie dem, der die Zeit zur Formulierung fand.

Der spezifische Ansatz der Minima Moralia, eben der Versuch, Momente der gemeinsamen Philosophie von subjektiver Erfahrung her darzustellen, bedingt es, daß die Stücke nicht durchaus vor der Philosophie bestehen, von der sie doch selber ein Stück sind. Das will das Lose und Unverbindliche der Form, der Verzicht auf expliziten theoretischen Zusammenhang mit ausdrücken. Zugleich möchte solche Askese etwas von dem Unrecht wieder gutmachen, daß einer allein an dem weiterarbeitete, was doch nur von beiden vollbracht werden kann, und wovon wir nicht ablassen.

(Theodor W. Adorno, Anfang von Minima Moralia)

(Foto: Stefan Moses, Theodor W. Adorno, Frankfurt 1963, aus dem Zyklus Deutschlands Emigranten, Archiv Stefan Moses im Münchner Stadtmuseum, Sammlung)

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