Alles im Blick

 

Ich habe in den letzten Wochen viele Filme über Pina gesehen und Interviews nachgelesen, und dabei war einfach nicht zu übersehen, wie wenig Pina der Sprache vertraut hat, und wie sie sich manchmal gewunden und gequält hat, um etwas zu sagen, was eigentlich einfach war, aber eben doch nicht, in einer Welt, in der das Einfache längst das Schwerste geworden ist.

Dann schaute sie oft hilflos um sich herum, wenn ihr die Worte fehlten, ob sie denn die Antwort nicht mit den Augen finden könnte. Da ging einem dann auf, wie sehr Pina statt den Worten ihrem BLICK vertraut hat, jedenfalls viel mehr dem, was man sehen konnte als dem, was es darüber zu sagen gab.

Man sagt ja von Blinden, daß sie ihr Gehör als Ausgleich um so mehr schärfen. Mit Pina war es sozusagen umgekehrt: aus Mißtrauen in die Worte hat sie dafür um so mehr auf ihre Augen gesetzt. Aber auf eine ganz besondere, eigene, ja, einzigartige Weise. Sie hat ihren Blick ungeheuer geschärft für all das, was wir mit unseren Bewegungen und Gesten sagen, was wir damit über uns selbst verraten, unwillkürlich, unbewußt, und eben auch den meisten Zuschauern unsichtbar.

Nicht für Pina. Pina hat gesehen, wo wir anderen im Dunkeln tappen.

So hat sie eine einzigartige Phänomenologie der Gesten geschaffen, eine Weltsicht, oder besser: eine Erklärung oder Deutung unseres Menschseins, wie es sie vorher nie gegeben hat “

(Wim Wenders, Auszug aus seiner Trauerrede auf Pina Bausch, 4.9.09)

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