„Was die meisten Menschen als phantastisch betrachten, halte ich für das innere Wesen der Wahrheit“ Max Ernst (1891 – 1976)
Vor zehn Jahren besuchten wir den unlängst verstorbenen Künstler Paul Wunderlich in seiner Sommerresidenz
Jupiter ist schon da. Sein schläfriger Gesichtsausdruck täuscht darüber hinweg, dass er höllisch aufpasst. Auf seinen kurzen krummen Beinen hat er sich in der Einfahrt aufgebaut und verfolgt aus runden schwarzen Augen jede Bewegung. Jupiter hat so manche Berühmtheit die Allee entlang kommen und ins Haus gehen sehen. Das lässt ihn, der täglich Umgang mit Königen, Göttern und Feen hat, ziemlich kalt. Die englische Bulldogge ist einer von vier Hunden, die zum Anwesen Valcombe gehören. Die einstige Seidenraupenzucht liegt weit ab von der nächsten Stadt, versteckt in einem provencalischen Wäldchen. Paul Wunderlich erwarb das altehrwürdige Gebäude vor zwanzig Jahren. Seine Ehefrau, die Fotojournalistin Karin Székessy, und ihn fesselte das Geheimnis dieses magischen Ortes. Gleichsam in einer Art Osmose zwischen ihren künstlerischen Fantasien und Haus, Hof und Natur haben sie ein einzigartiges Kunstwerk geschaffen. Der damals 75Jährige zählt zu den bekanntesten deutschen Künstlern der 60er und 70er Jahre und ist sich als phantastischer Realist immer treu geblieben. Hier im flirrenden Lichts Pans scheint er sich selbst in eine Figur jener Bildwelten zu verwandeln, die er ein Lebtag lang ersann. Hochgewachsen mit vollem schlohweißem Haar steht der Künstler am schmiedeeisernen Tor. Seine aufrechte Haltung lässt den Stock vergessen, auf den er sich stützt. Er braucht die Ornat-Maskerade des Hohe Priesters nicht, er ist es. Die Grenze zwischen Selbstinszenierung und Identität verschwimmt. Wenn Wunderlich am großen runden Tisch unter den weit ausladenden Zweigen der Jahrhunderte alten Linde gestenreich erzählt, ist er wieder ganz der zugewandte Lehrer, als der er an der Kunstakademie Hamburg einigen Künstler-Generationen in Erinnerung blieb. Ganz der geneigte Vermittler und einfallsreiche Kuppler zwischen einander fremden Kunst-Welten. Damals, als 35Jähriger berühmter Künstler hatte er einen Ruf an die Kunstakademie Hamburg angenommen: “Um meiner Mutter zu gefallen, bin ich Beamter geworden”, schmunzelt er. Aber auf der Höhe von Macht und Einfluss ließ er sich ohne Rentenanspruch beurlauben. Als Dozent hatte er indes Zeit genug, um den amerikanischen Künstler Richard Lindner über den großen Teich zu holen und die Engländer Allen Jones und David Hockey mit großen Ausstellungen bei uns bekannt zu machen. Nicht zu vergessen: Friedensreich Hundertwasser am Anfang seiner Karriere.
“Mir ist alles in den Schoß gefallen”, bei dieser Feststellung Wunderlichs ahnt sein Gegenüber, dass das Gegenteil der Fall war. Und bohrt man weiter, so gesteht der Künstler schließlich ein, dass Kindheit und Jugend in Eberswalde kein Zuckerschlecken waren. Zugeflogen ist ihm aber das Talent, und er hat es verstanden, sein Leben um seine Kunst herum zu organisieren. Er ging in vielen Ateliers aus und ein. Da wurden unter Künstlerfreunden schon mal Bilder gekauft. Er hat zu einem frühen Zeitpunkt sachverständig Arbeiten erworben von Gerhard Richter, Sigmar Polke und wie sie alle heißen, die auf dem internationalen Kunstmarkt zu den höchst dotierten Künstlern zählen. So nannte Paul Wunderlich eine stattliche Sammlung sein eigen. Der Erfolg als Künstler machte ihn schon in mittleren Jahren materiell unabhängig, und so geriet er nie in Versuchung, in seiner Kunst Zugeständnisse an schnelllebige Moden zu machen. Er ist sich in seinen Themen und in seinem Stil treu geblieben. Das erkannte jeder Besucher, den der Künstler in sein Atelier unterm dem Dach von Valcombe bat. Das unfertige Gemälde auf der Staffele zeigt einen jener geheimnsivollen mandeläugigen Köpfe in Profilansicht. Noch ist er ganz in Grau gehalten, doch die typischen sparsam hingetupften Farbelemente kann man sich schon vorstellen. Nebenan hatte der Künstler sich seine eigene Galerie eingerichtet. Demonstrativ mittendrin ein Ruhe-Kanapee, von wo der Künstler seine Werke an den Wänden betrachtete, wann immer es ihm gefiel. Keine Galeristen, keine Museums-Öffnungszeiten zwischen ihm und seinen “Geschöpfen”. “Ich bin nicht auf Ausstellungen angewiesen”, erläutert Wunderlich. Von Zeit zu Zeit druckte er auf seiner großen Steindruckmaschine mit einem befreundeten Schweizer Drucker Lithographien in kleiner Auflage. Zum Spaß. Hat er also die größtmögliche künstlerische Freiheit erlangt, die kein Kritiker je ankratzt? Er braucht seine Kunst nicht mehr zu Markte zu tragen. “Das ist wohl so”, antwortet Wunderlich. Und deshalb musste er nicht ängstlich auf Kunstkritker äugen, als er die Natur zur unübertroffenen Galerie seiner plastischen Arbeiten machte. Wie Narziss sich an seinem Spiegelbild nicht satt sieht, so kann Wunderlich nicht aufhören, sich selbst vergewissernd, auf sein Werk zu schauen. Etwa auf die überlebensgroßen Metallfiguren von König und Königin, die Wunderlich mitten im Wiesengeviert seines Parks auf eine Tribüne gestellt hat. Im Schatten von Hecken und Büschen stehen Stühle, Tischchen, ein Sessel. Von hier aus kann man die Gruppe aus immer neuen Blickwinkeln betrachten. Halb verborgen unter üppig wucherndem Weinlaub, ein Figuren-Brunnen, unauffällig an eine Wand gelehnt, oder auf einem Sandhaufen abgelegt, halb verpuppte Zwitterwesen, die für einen Augen-Blick eine Tür in Wunderlichs Parallelwelt öffnen.
Hier – in verborgenen Laub-Nischen, verwunschenen Moosgrotten, unter alten Bäumen, im Spiegelbild eines uralten Steinwasserbeckens – begegneten sich die Träume von Karin Székessy und Paul Wunderlich. Aber auch im täglichen Schaffen lieferte die Fotografin dem Maler häufig Motive, die er weiterentwickelte. “Der Blick ist ausschlaggebend”, weiß sie. Beide hängen ähnlichen ästhetischen Prinzipien an, zwei Seelenverwandte zudem, betrachtet man die Hingabe, mit der Sczekessy Park und Umland von Valcombe Schritt für Schritt in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Aus dem lichtlosen Unterholz befreite sie unzählige kleine Yucca-Pflanzen und ließ sie an einer Sonnenmauer Licht und Wärme atmen. Sie sind mittlerweile übermannsgroß. Mitten unter alten Eichen gab sie Buchsbäumchen eine Gestalt: Das Labyrinth wächst und gedeiht. Auch der Bambushain, der die Muer überragt, wird unter ihren Händen zu einem ästhetischen Projekt. Dazu passt es, wenn Sczekessy feststellt: “Kunst ist Arbeit”. Paul Wunderlichs verspielt-rhetorische Frage: “Wie geht Kunst?” ist da nur ein vermeintlicher Gegensatz. Denn gemeinsam wussten sie: “Wenn es ein Paradies gibt, dann ist es hier!”