„Sag mal Seidl – schläfst Du?“

Als der Schauspieler und Regisseur Rupert Seidl und ich uns kürzlich nach Jahren wiedersahen, gab es viel zu erzählen, und zwischendurch „pling“ mischte sein Handy sich ein: Eine Nachricht von Claus Peymanns Vertrauter Jutta Ferbers, die im Namen des kranken Regisseurs sich für einen Brief Seidls bedankte. Kaum eine Woche später ließ uns die Nachricht von Peymanns Tod erstarren. Als der Schock abgeklungen war, fragte ich Seidl, ob er mir nicht von seiner besonderen Beziehung zu Peymann und dem Ruhrgebiet erzählen wolle.

Rupert, Du hast Schauspiel und Regie an der HMDK Stuttgart studiert, wo Peymann seit 1974 als Intendant im Schauspielhaus waltete. Wie lerntest Du ihn kennen?

Seidl: Ich hatte schon einen Vertrag mit dem Theater Bielefeld in der Tasche, das vom klugen und liebenswerten Heiner Bruns geleitet wurde, einem Intendanten, wie er heute wohl schwer zu finden wäre, als Peymann sich ansagte, um die Absolventen des HDMK- Abschlussjahrgangs zu begutachten. Also war Ich ganz entspannt in meiner Präsentation und wie vom Donner gerührt, als man mich wissen ließ, dass er mich kennenlernen wollte. Aufgeregt traf ich den charismatischen Mann, und konnte es nicht fassen, als er mich einlud, seinem Ensemble als Regieassistent mit Spielverpflichtung  beizutreten. Obwohl er das Stuttgarter Schauspiel mit Uraufführungen zeitgenössischer Autoren wie Thomas Bernhard, Peter Handke und Peter Turrini zu einem Angelpunkt des deutschsprachigen Theaters gemacht hatte, wollte ihn der damalige Ministerpräsident Filbinger loswerden, weil es einen Zahnspendenaufruf für die in Stammheim einsitzende Gudrun Ensslin am Schwarzen Brett des Theaters gegeben hatte. Damals hielt ihm der Stuttgarter Bürgermeister Manfred Rommel die Stange, sodass er seinen Vertrag erfüllen konnte. Peymann nahm sein gesamtes Ensemble mit an seine neue Wirkungsstätte, das Schauspielhaus Bochum. Als Nachzügler trat ich dann 1980 ins Bochumer Ensemble ein.

Ein Riesending für einen Berufsanfänger! 

Seidl: Freilich, aber nach der ersten Freude packte mich die Angst. War diese Aufgabe nicht zu groß für mich? Ich unterschrieb ich in Bochum, Bruns ließ mich großzügig aus dem Vertrag.

Aus dem Süden ins Ruhrgebiet versetzt, das war sicherlich nicht leicht.

Seidl: Als gutes Zeichen nahm ich den weißen Wal, der sich Jahre zuvor verirrt hatte und bis Duisburg den Rhein hinab geschwommen war. Bis zu meinem Engagement kannte ich das Ruhrgebiet nur aus dem Zugfenster, von Reisen, die ich von München zu einem Freund in Bremen unternahm: ein anderer Planet, aschegrau und arm. Für mich wie durchsichtig, wie aus einer Art von historischem Glas. Ich sah buchstäblich die Geschichte in den Fassaden und Straßenzügen; auch die Zeit des zweiten Weltkriegs, meine biographischen Zeiten erst recht, die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre, aber so grau, so alt geworden. Wie eine Gespensterstadt meines bisherigen Lebens!  Nichts war übertüncht wie in der reichen Olympiastadt München oder im zu großen Teilen prosperierenden Stuttgart. Später wohnte ich in einem ‚schwarzgesichtigen Ruhrgebietshaus‘, wie Emine Sevgi Özdamar es in ihrem Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ beschrieb. Bochum war ein Ort seltsamer Begegnungen. Als ich zum zweiten Mal dort ankam, um mir, bevor es richtig losging, eine Wohnung zu suchen, stand ich im Bahnhofsrestaurant herum, hatte Hunger aber kein Geld. An einem Tisch saß ein sehr alter Mann. Er sprach mich an und lud mich zum Essen ein. Der junge, blonde, hochgewachsene Mann erinnerte ihn wohl an seine eigene Zeit als Landser, denn er nutzte die ganz Mahlzeit, um mir von seinen Kriegsabenteuern in Monte Casino zu erzählen. Das betrachte ich wie eine Überschrift für die Jahre die folgten, auch wie eine für den jungen Mann oder den greisen Jugendlichen der ich war.

Inmitten des Ruß-Lands befandest du dich am einzigen hellen Fleck, den Peymann Bochum zugestand, im Schauspielhaus. Wie ließ sich die Arbeit an?

Seidl:  Bei der Uraufführung von Herbert Achternbuschs „Kuschwarda City“ in der Regie von Alfred Kirchner arbeitete ich als Regieassistent. Manfred Karge, der in der Spielzeit 1983 / 84 Brechts „Die Mutter“ inszenierte, wurde später für mich zu einer Art Theatervater. Er war einer der DDR-Regisseure, die nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann die DDR verließen und lange vor dem Kulturabkommen (1986) die westdeutschen Theater aufmischten. Mit Matthias Langhoff bildete er ein Duo, das die künstlerische Handschrift am Schauspielhaus mitbestimmte. Emine Sevgi Özdamar war auf Karges Einladung hin von Berlin nach Bochum gewechselt. Heiner Müller nannte Peymann mal den Antipoden von Thomas Bernhard. Ich fand es toll, dass sich im Theater alle mit allen duzten und es keine Kommunikationsschranken zwischen den Generationen gab, ein Schauspieler, ob 20 oder 70 Jahre alt, war einfach ein Kollege. Ich fand das großartig und habe so viel wie möglich von den älteren Kollegen gelernt. Eine „junge Schauspielertruppe“ entstand später um Manfred Karge, der „Wer nie bei Siemens Schuckert war“, „Die Mutter“, „Claire“, „Die Eroberung des Südpols“ inszenierte,  und in Alfred Kirchners Inszenierung von Schillers Räubern.

Was war dein erster Einsatz als Schauspieler unter der weißen Theater-Flagge, die Karl-Ernst Hermann mit dem Symbol eines Förderturms gestaltet hatte?

Seidl: Ulrich Wesselmann brach sich ein Bein und ich übernahm auf Peymanns ausdrücklichen Wunsch seine Rolle in Nigel Williams „Klassenfeind“ in der Übersetzung von Willy Tomczyk: Ich spielte den Neonazi „Ratte“. Es wurde ein Riesenerfolg, und ich wurde  Schauspieler. Aber sofort erhielt ich einen Dämpfer; als junger Schäfer im „Wintermärchen“, das Peymann 1983 auf die Bühne brachte, drehte ich durch und wurde umbesetzt.

Die jungen Regisseure und Regisseurinnen aus der DDR waren wie eine Frischzellenkur für viele altmodische deutsche Bühnen. Zudem hatte Peymann keine Angst vor Konkurrenz.

Seidl: Er feierte in seinen sieben Bochumer Jahren große Erfolge bei Publikum und Kritik. Den Auftakt machte er mit „Tasso“, in Lessings „Nathan der Weise“ arbeitete ich als sein Regieassistent. Im Kleistdrama „Die Hermannsschlacht“, das Peymann nach eigenen Worten ‚den Nazis entreißen‘ wollte, habe ich mitgespielt. Damals hatte ich das Gefühl, auf einer Ebene mit Peymann zu schwingen. Heute weiß ich, dass mir Claus Peymann eigentlich immer sehr zugetan war. Aber ich glaube nicht, dass er Grund hatte, in mir einen vollwertigen Mitarbeiter oder Schauspieler zu sehen. Ich sehe heute klar seine Kleisthaftigkeit, seine Zerrissenheit, denn er hatte im Goethe’schen Sinn auch das richtige Maß, das Auge für Proportion. Er war kein Revolutionär aber ein Krieger, der mit den Mitteln der Bühne gegen das Dunkle kämpfte.

Anfang der 1980er Jahre war die öffentliche Stimmung aufgeheizt. Rigorose Stadtteil-Sanierungen, Wohnungsnot und die brutale Räumung besetzter Häuser trieben Studenten auf die Straße. Auch in Bochum ging es den Protestierenden um bezahlbare Wohnungen und ein autonomes Jugendkulturzentrum.

Seidl: Die Stühmeyerhalle, auch BO-Fabrik genannt, war ein Theater-Spielort. Von Dezember 1981 bis Februar 1982 war sie besetzt. Aber die Aktivisten, die dachten, Claus Peymann sei absolut einer von ihnen, hatten kein Wort verstanden von dem, was er sagte. Sie hatten seine große Sympathie, er hat aber keinen Hehl daraus gemacht, dass er nur auf einer Seite stand: der des Theaters.

Er war ein Kriegskind, das Verlust und Zerstörung erlebt hatte; er spielte auf Panzerwracks, und es scheint, dass er dieses Trauma in sich trug wie eine Energie, die ihn auf der Suche nach der besseren Welt unbeirrbar nach dem einzig gültigen künstlerischen Ausdruck immer weitertrieb. 

Seidl: Ja, die Schauspieler traf diese Energie mit voller Wucht. Peymann peitschte sie auch zu künstlerischen Höchstleistungen. Aber letztlich kümmerte er sich um jeden in seiner Theaterfamilie. Und er hat uns allen die Treue gehalten.

Am Berliner Ensemble soll er in der Wendezeit von der Wirksamkeit seiner Theaterarbeit erfüllt gewesen sein. 

Seidl: Ja, er wollte sein Publikum belehren, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Er erzählte große Stoffe märchenhaft, wie für ein Kind eben. Ich weiß aus vielem, was ich ihn sagen hörte, dass Märchen und Utopie für ihn zusammengehörten. Der Utopie in den großen Stoffen hat er sich märchenhaft genähert. Er hatte ein geniales Gehör für Sprache. Das kann man nicht hoch genug schätzen. Dass wir das Deutsch der Klassiker heute auf deutschen Bühnen heutig sprechen, leicht, lebendig nehmen dürfen: Ich denke, das verdanken wir theatergeschichtlich ihm und niemand anderem. Seine Selbstbeschreibung, dass er nicht intelligent aber überaus intuitiv sei, halte ich für Untertreibung.

Peymann hat Dich offenbar immer geschätzt.

Seidl: Er mochte mich gern. Er schätzte manches, was ich sagte, und wenn mir auf der Bühne etwas gelang, freute er sich sehr. Aber ich habe auch einen Brief von ihm, in dem steht: „Rupert, Du bist wirklich ein Hornochse.“ Ich habe ihm nicht selten Anlass gegeben, sich sehr über mich zu ärgern.

Sympathie, die nie direkt ausgesprochen wurd

Seidl: Während meiner Moerser Intendanz besuchte mich mal Andrea Breth. Wir plauderten, und sie ließ fallen, dass Peymann sie ins Vertrauen gezogen hatte: ‚Rupert Seidl ist toll, aber der Seidl ist wahnsinnig. Er ist auf meiner Probe eingeschlafen‘. Ich war tatsächlich bei der Vormittagsprobe eingenickt und Peymanns Stimme ‚Sag mal Seidl – schläfst Du?‘ weckte mich. Die erschrockenen Gesichter von Ortrud Beginnen und Urs Hefti auf der Bühne zeigten mir, was ich verbrochen hatte, aber Peymann meinte nur: ‚Lauf mal eine Runde ums Haus!‘ In seiner Wiener Zeit soll er Geschichten von mir erzählt haben, wenn er gut drauf war. Das weiß ich von seiner Souffleuse. 

Auch in einem Interview mit der „ZEIT“ hat Peymann tolle Dinge über dich gesagt.

Seidl: Ich habe ihn in Wien besucht, als ich gerade Intendant geworden war, und mich in einer schwierigen Situation befand. Wir plauderten lange miteinander. So wollte er mir vielleicht ein bisschen Schützenhilfe leisten, was ihm auch durchschlagend gelungen ist. Ich bin ihm für sehr vieles dankbar.   

Du verdankst ihm viel.

Seidl: Wir haben uns immer gefreut, wenn wir uns wiedergesehen haben, all die Jahre lang. Und, ja, das Eigentliche, was ich ihm verdanke ist, wie man die Sprache behandelt. Und wie man ein Theater leitet, von der Toilettenpapierrollen in den Publikumstoiletten aus aufwärts bis ganz nach Oben. Was ich ihm auch verdanke ist sein Glaube an mich. Ich bin durch meine psychische Erkrankung und meine Sucht hindurchgegangen. Peymann hat mich im Bochumer Ensemble behalten und mich vor mir selbst gerettet. 

Trotzdem hast du ihm einen Korb gegeben, als er von Bochum nach Wien wechselte.

Seidl: Ich konnte ihm nicht nach Wien folgen. Das habe ich ihm in einem Brief geschrieben.

 

Zur Person:

Rupert Seidl wurde 1955 geboren, studierte er von 1977-1980 Schauspiel und Regie an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Künste Stuttgart. Unter Claus Peymann war er von 1980-86 am Bochumer Schauspielhaus engagiert. 1986 gründete und leitete er zusammen mit P. Bierey und E. Koltermann das freie Theaterproduktionsnetzwerk „Sezession“. Bevor er ab 1990 Intendant des Schlosstheaters Moers wurde, war er dort von 1988-1990 Leitender Dramaturg und Schauspieler. Von 1999 bis 2023 war er unter Roberto Ciulli als Schauspieler Ensemblemitglied des Theaters an der Ruhr in Mülheim. Gegenwärtig ist er freiberuflich tätig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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