
“124 Years of Reverb” und „Último Halecho” bei der Ruhrtriennale
Jonny Greenwood war für den Intendanten Ivo van Hove wohl gerade prominent genug, um ihn innerhalb der aktuellen Ruhrtriennale als ein weiteres Aushängeschild einzusetzen. Im ursprünglichen Vorhaben half der Radiohead-Musiker, in seiner italienischen Wahlheimat, erdbebenzerstörte Kapellen zu sanieren, und verfiel dabei der Schönheit alter Orgeln. Die historischen Instrumente inspirierten ihn zu seiner Komposition „X Days of Reverb“: Greenwood lauschte quasi an den geschichtsträchtigen Kirchenwänden und spiegelte in seiner Komposition vergangene Zeiten wider. Der 124 Jahre alte Bergarbeiterdom von Essen-Katernberg ist das größte evangelische Gotteshaus im Rheinland. In seine Geschichte fräste sich – wie einst die Grubenmaschinen unter Tage ins Gestein – ein tiefer, vibrierender Orgelton. An- und abschwellend schien er den Zeitstrom zu symbolisieren, dem sich in großen Abständen immer neue Töne hinzuzugesellten. Melodiefragmente setzten markante Punkte in einer achtstündigen Erzählung über die Heerscharen schwer arbeitender Menschen, deren Hoffnung aus ihrem Glauben wuchs. Im trutzigen Dom suchten sie Zuflucht, die Zuwanderer aus armen Gegenden Europas und ihre Familien, die im Ruhrgebiet Arbeit und damit eine neue Heimat fanden. Unauffällig gesellte ich mich zu den Lauschenden in den gut gefüllten Stuhlreihen und folgte den minimalen klanglichen Modulationen, die abwechselnd von Eliza McCarthy und James McVinnie dargeboten wurden. Der monotone Dauerton wies nach innen und verleitete die meisten Konzertbesucher dazu, die Augen zu schließen. Nachdem ich die Buntglasfenster ausgiebig gewürdigt hatte, senkten sich auch meine Lider, und meine Gedanken wanderten bald fort von der Geschichte der gläubigen Kumpel hin zu meinem eigenen, drei Jahrzehnte währenden Leben im Ruhrgebiet.
Maloche bestimmte das Gesicht dieser Region noch Anfang der 1970er Jahre. Unübersehbare, hoch aufragende Fördertürme und Ungetüme von Hochöfen, in der dicken Luft der Dauerton rastloser Produktion, das vorherrschende Grau der Städte, die nahezu nahtlos ineinander übergingen, faszinierten die Studienanfängerin aus dem oberbayerischen Alpenvorland, wo schon ein Zementwerk oder eine Papierfabrik als „störendes“ Element in einer idyllischen Landschaft galt. Mein ungläubiger Blick auf die rußverschmierte Fensterbank, überall diese unscheinbare Hässlichkeit und die rührenden Versuche etwas dagegen zu halten. Von Anfang an überwältigte mich die Freundlichkeit der Menschen. An den Geruch der Kohle, der auch Jahre nach der Schließung der letzten Zeche in Bochum (1973) noch in der Luft lag, gewöhnte ich mich schnell. Der Ruhruniversität Bochum (RUB) eilte der Ruf einer seelenlosen Betonwüste voraus, doch ich fand schnell Anschluss und befreundete mich mit Kommilitonen, die noch heute zu meinen Freunden zählen.
In der Strukturkrise galt es vordringlich, die Existenz der arbeitslos gewordenen Bergleute durch die Ansiedlung neuer Arbeitsplätze zu sichern, andererseits wurden Zukunftskonzepte für die Nutzung stillgelegter Anlagen der Schwerindustrie gesucht, um Fördertürme, Kraftzentralen, Hochöfen und Waschkauen zu erhalten. Weitläufige Brachen harrten einer Lösung, bis schließlich Karl Ganser auf den Plan trat. Der Geograph und Städteplaner leitete die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscherpark (1989 bis 1999), und entwickelte mit seinem Team die Idee des Industriedenkmals, das die einstige Arbeitsstätte Abertausender Arbeiter würdigen sollte, dessen Architektur hervorhob und sich gleichzeitig der Kultur öffnete. Aufwendig wurden historische Gebäude saniert und zur Nutzung hergerichtet. Dem Vordenker Ganser ist letztlich nicht weniger zu verdanken als die Ernennung der Zeche Zollverein zum UNESCO Weltkulturerbe. Neben anderen Projekten erinnert die Ruhrtriennale, gegründet 2002, an diesen Strukturwandel. Von Anfang an setzten ihre Intendanten darauf, aufwendige, selten aufgeführte Inszenierungen aus aller Welt vorzustellen: hochwertige Konzerte, Theateraufführungen und Tanzdarbietungen.
Auch im Hallraum der einstigen Waschkaue, die seit 2002 PACT (Performing Arts Choreographisches Zentrum NRW Tanzlandschaft Ruhr) beherbergt, verfing sich ein Echo von weit her, das der staunenden Besucherin Augen und Ohren öffnete: Aus Motiven des vorkolonialen lateinamerikanischen Mythenkreises nährt sich die hybride Aufführung „Último Helecho“ (Der letzte Farn) nach einem Lied der peruanischen Sängerin Chabuca Granda, in dem eine Figur ihr Ende unter einem Rosenstrauch erwartet. Auf der schlicht als düstere Grotte dekorierten Theaterbühne erlebten wir, wie François Chaignaud hingebungs- und kraftvoll schier unerschöpflich wechselnde Figuren tanzte, bis eine zweite, weibliche Figur (Nadine Laisné) zum Leben erwachte und sich zu ihm gesellte.
Mit ihren tänzerischen Darbietungen in phantastischen Kostümen, die pflanzliche, tierische und menschliche Elemente betörend vereinten, und ihren fremd anmutenden Gesängen trieb das Paar unseren eurozentrisch geprägten Hirnen Bilder europäischer Herrschaftsgeschichte aus. Die sechs Musiker der Banda mit drei Posaunen und anderen Blasinstrumenten, Laute, Bandoneon und Trommel waren szenisch in die Choreographie eingebunden und entfalteten beeindruckend den musikalischen Reichtum Südamerikas.