Carl Einstein – Quecksilber in der deutschen Literatur
Nach einem Rundfunkskript von Martin Zeyn
„Fannai und Walz, Karl May, und der Tod Winnetous war mir erheblich wichtiger als der des Achill, und ist es mir geblieben. Ich flog aus dem Abitur und kam in ein Landgymnasium. Sonntags betrank ich mich im Karzer und las Detektivromane, Wedekind oder Rimbaud. Der Pedell mußte mich stets in die Penne abholen. Nachmittags lief ich auf einen kleinen Berg und trank dort in einem Riesenfaß. […]. Der Blick in die ermüdende Rheinebene war dermaßen verzweifelt, daß ich in diesem Faß zu schreiben begann“, schreibt Carl Einstein in seiner Autobiographie.
Sprunghaft, ironisch, böse. Carl Einstein, das Quecksilber der deutschen Literatur, schillernd, beweglich und ätzend – zumindest für Kitsch, Katheder und Klischees. Carl Einstein, einer der spannendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.
Über die Biografie Carl Einsteins ist wenig bekannt und das wenige nicht immer gesichert. Er wird 1885 in Neuwied geboren. Drei Jahre später zieht die Familie nach Karlsruhe, wo der Vater eine Stelle am Israelischen Landesstift bekommt, einem Internat für Religionslehrer. Der Vater stirbt, als Carl 14 Jahre alt ist, vielleicht begeht er Selbstmord. Trotzdem kann Carl Einstein erst weiter das Gymnasium besuchen. Dann muss er, um einem drohenden Verweis zu entgehen, an ein Landgymnasium wechseln. Einstein beginnt eine Lehre in einer Karlsruher Bank, die er bald abbricht. Er zieht nach Berlin, wo er ab 1904 Philosophie, Kunstgeschichte, Geschichte und Altphilologie studiert. Wie hat er das Studium und später sein Schriftstellerdasein finanziert?
Klaus Kiefer, der Gründer der Carl-Einstein-Gesellschaft : Also man weiß es nicht. Er hat sich sicher nur durchschlagen können. Und deswegen hat er eben die Schriftstellernöte auch sehr konkret erlebt. Mit Gedichten und Romanen konnte man nichts verdienen. Feste Redaktionsstellen hatte er nur kurz, einen Bestseller schrieb er nie. André Gide soll einmal gesagt haben, um als Schriftsteller zu überleben, müsse man Millionär sein oder eine Millionärin heiraten. Beides trifft auf Einstein nicht zu. Der“kometarische Aufstieg“, den der Schriftstellerkollege Franz Blei bewundert ereignete sich 1907, in Franz Bleis Zeitschrift „Die Opale“ eine erste Fassung des „Bebuquin“ erscheint. Einstein setzt hier Sätze einer solchen Fliehkraft aus, dass seinen Zeitgenossen schwindlig geworden sein muss.
„O Gott, Du gabst uns einen Körper. […] Ich aber wünsche, daß mein Geist, der sich etwas anderes als den Körper – o Gartenzäune, Stadtmauern und Safes, Pensionate und Jungfernhäute – denken will und so Neues wirkt und schafft“, schreibt Einstein. Er schafft Neues.
Er veröffentlicht erste Kritiken und kunsthistorische Artikel, ab 1912 in der Zeitschrift „Aktion“. Dessen Herausgeber Franz Pfemfert kann zwar keine Honorare zahlen, aber die beiden Männer verbindet die Überzeugung, nur eine Literatur, die Gesellschaft verändere, sei eine wichtige Literatur. Über Pfemfert lernt Einstein auch seine erste Frau kennen: Maria Ramm, eine russische Jüdin und Schwester von Pfemferts Frau Alexandra. In Pfemferts Verlag erscheint 1912 erst in Fortsetzungen, dann als Buch der vollständige „Bebuquin“. Ganze 96 Seiten schmal und doch so etwas wie ein Fanal: „Ihre Sucht nach Originalität entspringt Ihrer beschämenden Leere, meine auch. Ich entziehe mich ihnen ohne weiteres, dann spiegeln Sie sich in sich selbst, sie sehen, das ist ein Punkt, aber die Dinge bringen uns auch nicht weiter.“
Ein Roman, in dem jeder Satz glitzert, der auf Handlung und Psychologie verzichtet, der über alles und jeden spottet: „Die Vernunft macht zu viel Großes, Erhabenes zum Grotesken. An der Vernunft ruinierten wir Gott, die gesamte Idiosynkratie. Welches Recht hat die Vernunft dazu? Sie sitzt auf der Einheit – da sitzt die Gemeinheit!“
Ein Text, der den Leser nicht an die Hand nimmt, sondern hin und her wirft: „Der Fehler des Logischen ist, das es nicht einmal symbolisch gelten kann. Man muss einsehen, ihr Dummköpfe, dass die Logik nur Stil werden darf, ohne je eine Wirklichkeit zu berühren. Wir müssen logisch komponieren, aus den logischen Figuren heraus wie Ornamentkünstler, einsehen .. Wir müssen einsehen, dass das Fantastischste die Logik ist.“
Der Literaturwissenschaftler Haarmann, einer der Herausgeber der Carl-Einstein-Werkausgabe: „Damals war das ein Versuch einer autonomen Literatur, die deutlich Anleihen nimmt beim Collagieren, an fast kubistischen Formen des Schreibens. Die andere Seite wäre das filmische Schreiben, das wir später von Döblin kennen, aber hier im ‚Bebuquin‘ liefert Einstein sein frühes Meisterstück ab.“
1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Carl Einstein wird Soldat und anschließend Kanonenfutter vor Verdun, dort verwundet und ins Lazarett eingeliefert. 1915, mitten im Krieg, erscheint „Negerplastik“, eine reich bebilderte Abhandlung über afrikanische Skulpturen. „De facto entspricht unsere Nichtachtung des Negers lediglich einem Nichtwissen über ihn, das ihn nur zu Unrecht belastet. […]“
Einstein unterlässt jede väterliche Geste der Aneignung – die afrikanischen Skulpturen sind für ihn ein radikal Anderes. Und Einstein, immer vom Neuen, vom Anderen fasziniert, setzt seine ganze intellektuelle Kraft ein, diese Kunst zu beschreiben. Der Einsteinexperte Klaus Kiefer, der selbst in Benin gelebt hat: „Dieses Manifest, das ist einzigartig, epochemachend. Hermann Hesse, der sich damals mit dem Buch in einer Rezension befasst hat, hat es schön ausgedrückt, weil es ein Loch in den klassischen Schönheitskanon schlug.
Einstein postuliert, es mit großer Kunst zu tun zu haben, nicht mit ethnologischen oder sakralen Fundstücken. Also mit einer Kunst, die so avanciert ist wie der gerade in Blüte stehender Kubismus.
„Selbst die Frontalität, worin man eine strenge „primitive“ Formklärung zu sehen pflegt, muß als malerisches Erfassen des Kubischen bezeichnet werden; denn hier wird das Dreidimensionale in einige Ebenen aufsummiert. (Negerplastik W. 1, S. 248)
Afrikanische Skulpturen sind nicht primitiv, sondern sie stellen eine eigenständige künstlerische Aneignung des dreidimensionalen Raumes dar. Mit solchen Thesen erregt dieses Buch Aufsehen, bald wird es ins Französische und Italienische übersetzt.
Aber noch tobt der Erste Weltkrieg. Einstein hat Glück und wird in die Zivilverwaltung des besetzten Brüssels versetzt, mutmaßlich wegen seiner guten Französischkenntnisse. Dort trifft er sich unter anderem mit Schriftstellerkollegen wie Gottfried Benn und Carl Sternheim. Einige Artikel entstehen, außerdem der Erzählungsband „Der unentwegte Platoniker“. Doch gut ist es ihm in der Etappe nicht ergangen. An seine Frau Maria schreibt er im Frühjahr 1917: „Ich halte den Krieg nicht mehr aus. Alles bricht zusammen; alles, was mir galt, ist zerstört. Das ist ganz sicher, nur die Lyriker, die noch christlich stöhnen, wird es noch geben. […] Wo soll man vor dieser jämmerlichen Blödheit hinflüchten. Sklaverei Sklaverei. Was kann man noch veröffentlichen. Ich nichts mehr“, so Einstein in seiner Autobiographie (Die Pleite Werke 2, S. 14,1919)
Ende des Krieges gehört Einstein dem Soldatenrat an. Er organisiert, so ein Augenzeugenbericht, die rasche Übergabe der Macht in belgische Hände. Einstein kehrt nach Berlin zurück und agiert dort gegen die neuen Mächtigen.
„Sinn der Revolution ist nicht parlamentarischer Kuhhandel mit antiquierten Bürgern, sondern Zusammenschluss des Proletariats zur Entscheidung. Regierungssozialisten, mit falschen Nachrichten tötet man keine Idee. Es wird euch nicht gelingen, tote Führer zu sabotieren. Die Gemordeten rufen uns Lebende. Das Gekreisch eurer abgenutzten Notenpresse schwingt über unseren Köpfen. Ihr seid, Pleite“ Erschienen ist diese Abrechnung mit der SPD in der von Wieland Herzfelde und George Grosz herausgegebenen Zeitschrift „Die Pleite“. Ein Text-Bild-Labor und der Versuch, dadaistischen, also destruktiven Witz mit konstruktiver Politik zu verbinden. Mit der sechsten Ausgabe wird die Zeitschrift verboten, Einstein mindestens einmal verhaftet, zeitweilig versteckt er sich vor der Polizei. Aber anders als Herzfelde und Grosz tritt er nicht der eben gegründeten Kommunistischen Partei bei. Die ist ihm zu doktrinär, jetzt schon, lange vor den stalinistischen Versteinerungen. In einer Romanskizze heißt es: „Mit einem Mal weiß Beb nicht, ist er oder sind die Kommunisten die Reaktionäre. Er sieht, er muß zuerst seine Person abtun und sich opfern; aber sein einstiges Leben war bisher ein unaufhörlicher Egoismus, alles war darin nur auf Steigerung seiner Person gerichtet. Bisher suchte er die außergewöhnlichen Abwege, das Neue, das Ungewöhnliche. Er sucht immer wieder von den Kommunisten wegzukommen […]. Der alte Anarchist erträgt kein Kommando, keine fertigen Parolen. Seine grenzenlose Kritik, seine Opposition, brechen immer wieder durch (zitiert nach Kiefer 1985)
kauft Einstein ein Haus in Berlin Frohnau – am Rande der Stadt zwar, aber auch nicht gerade Ausdruck der Umwertung aller Werte. Für den Dadaismus, für den er sich eben noch heftig begeisterte, hat er nur noch Spott übrig – wie er unumwunden in einen Brief an den Brüsseler Freund und Mitdadaisten Clément Pansaers bekennt: “Dada ist ein fauler Witz, der zu lang furzt.
„Der Begriff ist geradeso ein Nonsense wie die Sache. Man wird nie die Kombination los. Der Begriff will zu den Dingen. Aber gerade das Umgekehrte will ich.“(Bebuquin)
„Etwas länger ist seine Abrechnung mit der jüngsten deutschen Literatur im Pariser Magazin „Action“: “Irgendetwas schlecht Bezahltes, frierend und mit den Zähnen klappernd, das unbemerkt vorübergeht und ohne Wirkung bleibt; die Mittel scheinen erschöpft zu sein. Inzwischen probieren einige Optimisten einen Biertisch-Dadaismus; mangels Skandal war es eine Fehlgeburt. Selbst der dionysischste Autor würde von der stupiden Indifferenz unseres Publikums entmutigt“ (Über Deutschland Werke Band 2, S. 200).
Wenn schon der radikale Unsinn von Dada, der alles in Frage stellt, keine Reaktion hervorruft, was dann? Einstein wechselt seine literarischen Mittel, ja, scheint plötzlich ein ganz anderer zu sein. 1921 erscheint das Drama „Die schlimme Botschaft“ bei Rowohlt. Darin versetzt er Jesus in die Jetztzeit, und da muss sich der Messias mit Antisemiten auseinandersetzen. Einstein zeigt einen Jesus, der sich weigert, für Glaubenssätze instrumentalisiert zu werden: „Mein Gott, wer bin ich, daß ihr mich verschieden glaubt? Sie verstehen die Lehre nicht und sehen nur mich. Sie erkennen die Auferstehung nicht. Müssen wieder unbegreifliche Wunder auffahren, daß sie zu begreifen glauben? Wunder, die mir das Herz zerschlagen. Sie verlangen von mir, daß ich Wunder aller Götter tue, sie klammern sich an geschaute Erlösung ((W 2, S. 149).
Carl Einstein sucht den Kern des Christentums abseits von Vergöttlichung und Wundern, so wie Fjodor Dostojevskij vor ihm und Michail Bulgakov nach ihm. Er ist frustriert, dass das Publikum sich über seinen Spott empört, nicht aber seinen Ernst erkennt. Als Literat tritt er von jetzt an kaum noch in Erscheinung. 1923 schreibt er an seine Freundin Tony Simon-Wolfskehl: „Den ‚Bebuquin’ musste ich mit einer Hungerkrankheit bezahlen, jeder Verlag schmiß mich raus. Heute kann ich mich gegen die Leute und ihr Nachlaufen kaum verteidigen. Darum habe ich Politik gemacht, gesoffen etc. […] Als ich noch ein Talent war, war man gegen mich, heute wo ich ein Plattkopf bin – ist’s die große Sache.“
Die große Sache ist die Kunst. Einstein bekommt den Auftrag, für die Propyläen-Kunstgeschichte den Band „Expressionismus“ zu verfassen. Nach intensiver Arbeit und verzögert durch die Inflation, erscheint 1926 der Band mit dem Titel: „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ – und ist ab diesem Zeitpunkt ein Standardwerk für den Kubismus, den Formalismus und auch den Expressionismus. Vor allem da Einstein nicht nur sammelt und beschreibt, sondern auch eine Theorie der jüngsten Kunst mitliefert: „Form ist nicht mehr ein Ausgleich oder Weglassen widerstrebender Teile des aufgenommenen Motivs, nicht mehr ein Kompromiss zeitlich getrennter Wahrnehmungsteile, sondern Form ist nun die Ganzheit des undurchbrochenen subjektiven Aktes.“
Es gebe keine objektive Wahrnehmung mehr, ja, letztlich sei die Behauptung einer gültigen Wirklichkeit schon eine Lüge. Das gegen alle Widerstände zu zeigen, ja zu offenbaren, das sei die Leistung der modernen Künstler. Moderne Wahrnehmungsphilosophie verbindet sich bei Carl Einstein mit Kunstbetrachtung. Alfred Barr, Gründungsdirektor des New Yorker Metropolitan Museum of Modern Art, lobt denn auch 1936 Einsteins „Kunst des 20. Jahrhunderts“ als „most important work“.
1928 zieht Einstein nach Paris. Berlin, wo er 25 Jahre lange gelebt hat, erscheint ihm provinziell. In Frankreich setzt er seine Hoffnungen. Doch Einstein gelingt es nicht, sich eine gesicherte Existenz aufzubauen, obwohl er schnell Anschluss findet an intellektuelle Zirkel. 1929 erscheint zum ersten Mal die Zeitschrift „Documents“, die Einstein mitgegründet hat. „Documents“ ist ein intellektuelles wie visuelles Wagnis. In der ersten Ausgabe finden sich Aufsätze über antike Münzen neben einem Porträt Strawinskys und einem Artikel Einsteins über Picasso, jener Maler, dessen Wandlungsfähigkeit – und damit vielleicht auch die eigene – er später beschreibt als „das Signal all dessen, was unsere Zeit an Freiheit besitzt.
„Documents“ wird zum Sammelbecken der Dissidenten unter den Surrealisten um Georges Batailles, also jenen, die sich dem Zuchtmeister André Breton nicht mehr bedingungslos unterwerfen wollen. Einstein letzter Artikel erscheint 1930, ein Jahr vor der Einstellung der Zeitschrift. Warum Einstein nicht mehr für „Documents“ schreibt, ist nicht bekannt. Ein möglicher Grund: Enttäuschung. Nicht allein über die Zeitschrift, sondern über die Intellektuellen generell: „Die Intellektuellen hatten ihre eigene Geschichte sich geschrieben und bluffend darin sich historisiert. Ein lärmender Reklamebetrieb war aufgezogen, um die Käufer von der Notwendigkeit und Bedeutung der geistigen Produkte zu überzeugen (Fabrikation der Fiktionen, Rowohlt 1973, S. 13.
Um 1930, vielleicht auch erst 1934, da ist die Forschung sich nicht sicher, beginnt Einstein die Arbeit an „Fabrikation der Fiktionen“ – mit über 400 Typoskriptseiten ein umfangreiches Werk. Obwohl es in Rowohlts „Das neue Buch“ erscheint, einer der vielen spannenden Publikationen, mit denen die Verlage Anschluss an die Debatten der Studentenrevolte suchen, bleibt es nahezu ohne Wirkung. Ein Grund ist der Text selbst: „Wir verweisen auf diese verfälschte Geschichtsschreibung, worin die Intellektuellen einen schamlosen Geniekult, ihre eigene Vergottung propagierten.
Dieses Wir klingt nach einem verzweifelten Ich. In die „Fabrikation der Fiktionen“ wirft er den Intellektuellen und der Kunst totales Versagen vor. Ist das noch Einstein? Klaus Kiefer, ein Kenner des Spätwerks, sieht darin eine Selbstbefragung: „Er war ein Zyniker, der sich selber auch nicht verschont hat. Das macht eben die Sprengkraft aus, die er in sich hatte.“
“Die Modernen betonten die subjektive Reaktion, deren Sphäre sie weit gedehnt hatten. […] Die eindeutige, kollektive Wirklichkeit wurde als Hemmung der individualen Differenzierung, als Gefährdung der individual poetischen Prozesse empfunden“ (Fabrikation S.152).Eine Intellektuellenschelte. Doch Hermann Haarmann, einer der besten Kenner der Exilliteratur, widerspricht dieser Einschätzung. Einstein habe als einer der wenigen die Kraft besessen zu einer schonungslosen Analyse: „Aber da ist er ehrlich. Tucholsky hat gesagt, ihr redet da alle im Exil vom Weitermachen. Ihr müsst endlich begreifen, wir haben eine Niederlage erlitten, dagegen ist Salzsäure eine warme Seifenlauge.“ Showtime unter Gedicht: „Emigration / Die Schwachen werfen sich auf die noch Schwächeren./ Verfolger nahmen mir/ tönende Gegenwart/ und lebendige Welt. Wo werde ich den Fuß/ in luftlose Stummheit tasten – Ich verhungere in verwestem/ ortlosem Geist/ zerschnitten endlos.“
Mit der Bestellung Hitlers zum Reichskanzler ist er als Jude und als Philosoph und Denker unmittelbar betroffen. Das Schicksal der Emigranten schlägt voll auf ihn durch. Die Vereinsamung, auch die sprachliche ist nicht mehr zu unterdrücken.
Einstein ist ein strenger Polemiker, einer, der postuliert und auf Widerspruch wartet. Aber für Polemik braucht es ein Publikum, einen Resonanzraum. Der fehlt ihm in der Emigration. Immer wieder beklagt er in Briefen, von seiner Muttersprache abgeschnitten zu sein. So gut er Französisch spricht, glaubt er doch nicht, in dieser Sprache als Schriftsteller reüssieren zu können. Er schreibt einen Artikel für die Avantgardezeitschrift „Transitions“ um Joyce und Beckett, und zusammen mit Jean Renoir auf Französisch an einem Drehbuch. Doch sein Langzeitprojekt, die Fortsetzung des „Bebuquin“, kommt nicht voran. Obwohl Einstein darauf große Hoffnungen setzt, vor allem intellektuelle: „Der Roman als einziges Mittel die Kritik des Bewußtseins durchzuhalten – gegen das Versaufen im apodiktischen Denken“ (zitiert nach Penkert).
Was nur als Torso existiert, ist seine Ästhetik. In Briefen schreibt er immer wieder, er arbeite daran. 1934 erscheint „Georges Braque“. Klaus Kiefer sieht in dieser letzten Publikation Einsteins jedoch weit mehr als eine Künstlermonografie: „Da hat er jenseits des Kubismus ästhetische Modelle entwickelt, die er im falsch betitelten Band George Braque bringt. Das war eine Notlösung, er musste irgendein Buch verkaufen. Ist dann noch auf Französisch erschienen, in keiner guten Übersetzung. Aber wenn man das deutsche Manuskript dazu liest und noch einige Bausteine dazu fügt, ist es eine der größte Ästhetiken des 20. Jahrhunderts. Bislang nicht gewürdigt.
Einstein entscheidet sich 1936 geht er zusammen mit seiner zweiten Frau Lyda Guévrékian nach Spanien, um gegen Franco und die Faschisten zu kämpfen. Als einer von circa 5000 Deutschen, die die Sache der Republik unterstützen. Er schließt sich den Anarcho-Syndikalisten an. „Spanien, das ist sein freiheitlicher Geist. Und die Syndikalisten waren eigenständig, hingen nicht am langen Arm Moskaus und Stalins. Die auch gemerkt hatten, dass über die kommunistische Internationale Stalin bis in den spanischen Bürgerkrieg hinein eine desavouierende Politik getrieben hatte.
Schon im November 36 fällt die zentrale Figur der Anarchisten vor Madrid: Buenaventura Durruti. Einstein hält die Totenrede. „Durruti […] sprach nie von sich, von seiner Person. Er hatte das vorgeschichtliche Wort „ich“ aus der Grammatik verbannt. In der Kolonne Durruti kennt man nur die kollektive Syntax. Die Kameraden werden die Literaten lehren, die Grammatik im kollektiven Sinn zu erneuern. Durruti hatte die Kraft der anonymen Arbeit innigst erkannt. Namenlosigkeit und Kommunismus sind eines. Kamerad Durruti wirkte sternenfern von aller Eitelkeit der Linksvedetten. Er lebte mit den Kameraden, kämpfte als Compagnero. So strahlte er als begeisterndes Vorbild. Wir hatten keinen General; aber die Leidenschaft des Kampfes, die tiefe Demut vor der großen Sache, der Revolution, strömten aus seinen gütigen Augen in uns über, und unsere Herzen waren eins mit dem seinen, das für uns in den Bergen weiterschlägt. Wir werden immer seine Stimme vernehmen. […] Diese anarchosyndikalistische Kolonne wurde in der Revolution geboren. Diese ist ihre Mutter. Krieg und Revolution sind uns ein einziger, unzertrennlicher Akt.“ (W3, S. 459)
Bis zum bitteren Ende kämpft Einstein. Nach Francos Sieg flieht er mit tausenden Anderen 1939 nach Frankreich. Ein Foto in Paris Match zeigt ihn – gealtert, resigniert. Später erinnert sich der Galerist Daniel-Henry Kahnweiler an Einstein: „Carl ging nach Spanien, um dort gegen den Faschismus zu kämpfen. Seine Frau, Lyda, pflegte die Verwundeten in Barcelona. Er kam zurück mit dem geschlagenen Heer, er wurde in Argeles interniert und endlich freigelassen. Von nun an sah ich ihn fast täglich. Er war sehr arm, er hatte sich seine Uniform blau färben lassen und trug sie.“ (Pfemfert, Belleville S. 163).
Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 wird Einstein von den Franzosen interniert – wie so viele andere Emigranten auch. Er kommt frei. Doch wohin vor Wehrmacht und Gestapo fliehen? Die Hauptroute durch Spanien kann er als Francogegner nicht nehmen. Am 5. Juli wird er tot mit aufgeschnittenen Adern in einem halbvertrockneten Flussbett aufgefunden. Haarmann: „Er ist immer noch ein fast Verkannter.“
Die Kunstgeschichte hat Einstein lange übersehen. Die deutsche Universitätslandschaft war durch die Vertreibung zahlreicher herausragender Wissenschaftler auf Mittelmaß herabgesunken. Diskutiert wurde Hans Sedlmayers 1948 erschienene neo-klassizistische Schrift „Verlust der Mitte“, die die gesamte Moderne als defizitär beschrieb. Einstein ließ er unerwähnt und überging auch alle modernen philosophischen Strömungen. Intellektuelle Dürftigkeit, die die Leichengrube, die der Nationalsozialismus hinterließ, mit der Floskel einer „Mitte“ zuzukleistern versuchte. Und selbst Werner Haftmann, der die Kassler documenta zu einer Weltkunstausstellung formte, ließ sich nur dazu herab, Einsteins Propyläenband als „keineswegs überholt“ zu würdigen. Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum Carl Einstein so lange unbeachtet blieb – länger noch als Walter Benjamins „Reproduktionsaufsatz“ oder Aby Warburgs „Ikonografie“, von denen die Kunstgeschichte seit über 70 Jahren zehrt. Einstein hat seine Beobachtungen nie zu einer eigenen Theorie zusammengeführt. Sein Werk ist voll von intellektuellem Sprengstoff, etwa, dass Geschichte kein Kontinuum darstellt: „Tatsächlich leben Geschichte und Überlieferung in sprunghaften Intervallen und dialektischem Kampf.“ (W 5, S. 92)
Oder seine Behauptung, das Neue erhalte seine Kraft durch den Rückgriff auf Mythologie und das Unbewusste: „Jedes Neue enthält gleichzeitig eine Regression, da auf jenes länger ungenutzte Schichten reagieren.“ (W 5, S. 260)
Der heftige Pulsschlag dieser Sätze ist auch nach 60 Jahren deutlich zu spüren, die radikale Infragestellung von universitären Gemeinplätzen hat nichts von ihrer Schärfe verloren. Doch all diese Sätze taugen nicht für Proseminare und Lehrbücher. Einsteins Versuche, eine Ästhetik zu schreiben, kommen aber über erste aphoristische Überlegungen nicht hinaus. Der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel hat Einstein als „Halb-Vergessenen“ charakterisiert. Immer wieder wird er wiederentdeckt. 1962 im Zuge des Expressionsmus-Booms, als junge Wissenschaftler sich daran machten, diese von den Nazis verschüttete Sprachschicht freizulegen. Dann 1970, als er Vordenker der über das Ausbleiben der Revolution enttäuschten Studenten hätte werden können. Heute hat der „Bebuquin“ sogar in die Reclam Universal Bibliothek Aufnahme gefunden, die Werkausgabe aber ist nicht mehr vollständig lieferbar. Die Fragmente vom „Bebuquin 2“ sind nach wie vor nicht erschienen. Kurt Tucholsky hat James Joyces’ Roman „Ulysses“ einmal einen „Fleischextrakt“ genannt, aus dem man noch viele Romane kochen kann. Das gilt auch für den „Bebuquin“. Der Roman ist ein Gedankenspiel und ein Wortspiel. Große Prosa, voller Witz, absolut modern. Ein Brühwürfel, aus dem Deutschland noch viele Romane kochen könnte… „Wenn ein sympathischer Zeitgenosse sich mit Außerordentlichem abgibt, sperren sie ihn ins Irrenhaus. Meine Herren, der Mann interessiert sich nur nicht für ihre rationale Welt, warum wollen Sie denn nicht wenigstens einsehen, dass Ihre Vernunft langweilig ist? Alles stilisiert die Vernunft, das meiste verschleißt sie zu angeblich belanglosen Übergängen, das andere ist Kanon: das Wertvolle, das Langweilige, das Demokratische, das Stabile. Dank an Bebuqun!