Zeichnungen von Peter Handke erstmals ausgestellt
Peter Handke macht sich im Juni 2017 auf, von seiner „Niemandsbucht“, dem weiteren Umfeld seines abgelegenen Domizils in der Nähe der Seine-Metropole, an die Spree, aber es ist keine seiner früheren Welterkundungen. Vielmehr erwarten ihn an seinem Ziel, den Wänden einer Galerie am Berliner Fasanenplatz, aufgereiht wie eine Perlenkette, vergangene Momente seiner selbst.
Erstmals zeigen seine zeichnerischen Offenbarungen sich einer Öffentlichkeit. Was Wunder also, dass der Dichter lange vor seinen Zeichnungen verharrt, sucht er doch jene Augen-Blicke wieder, die ihm einst auf Wanderungen entglitten, als ihm etwas aufgefallen war, und er sein Oktavheft aus der Hosentasche gezogen hatte, um es kurz zu notieren. Als ihm der Kuli davonlief, aus dem Gatter der Schrift ausbrach und Linien zog wie ein Haubentaucher auf dem windstillen See. Weltsplitter hatte er aufgeklaubt, im Einverständnis mit den Dingen, manchmal auch war er vergangen vor Angst, verloren zu gehen in den (Strich)-Wirrnissen.
Formen und Prinzipien seiner Wahrnehmung sind auf den tausend Seiten seines „Romans“ Das Jahr in der Niemandsbucht“ nachzulesen.
Wie Novalis strebt Peter Handkes Utopie nach der Poetisierung der Welt, aber er überschreitet die Aufklärung im Schulterschluss mit Vorgängern wie dem konservativen, katholischen Adalbert Stifter. Sein Programm: „das Erzählen von Vorgängen, friedlichen, die schon das Ganze und insgesamt am Ende vielleicht das Ereignis wären: das Strömen eines Flusses durch die Jahreszeiten; das Dahinziehen von Leuten; das Fallen des Regens, auf Gras, Stein, Holz, Haut, Haar; der Wind in der Kiefer, in einer Pappel, an einer Steinwand, zwischen den Zehen, unter den Achseln . . . Und trotzdem sollte das alles im Zusammenhang erscheinen und vibrieren . . . im Anklang etwa an Eichendorffs ‚Ahnung und Gegenwart‘“.
Peter Handke hat verstehen gelernt, dass man nicht weiß, war man tut. Wie sein „Held“ in der „Niemandsbucht“ schöpft er aus dem Nichts. Ein Hilfsmittel seit vielen Jahren schon ist sein Merkheft, das er wie ein Schmetterlingsnetz benutzt, um am Ende seines Umherschweifens anschauen zu können, was ihm widerfuhr.
Und nun also betrachtet der Dichter seine „Beute“ zum ersten Mal herausgelöst aus dem Wahrnehmungs- und Aufschreib-Zusammenhang, eingezäunt von Bilderrahmen: ein zappelnder Gedankenblitz, ein Ding, hinter dem das Unbedingte hervorlugt. Mag der Autor in seiner Anschauung der Welt das einzig richtige Wort für ein Ding, einen Farbton oder ein Aroma für ein winziges Detail dieser unendlich vielfältigen Welt / Natur erhascht haben, so beschnüffelt und befingert er es wohl im Nachhinein noch einmal wie die Pilze in seinem Korb. Es ist ja ein osmotischer Prozess, dieses Gehen durch die Zeit, in dem die Welt und der Dichter sich unaufhörlich durchdringen. An dem Punkt, an den das Wort nicht hinreicht, verwandelt der schreibende Stift sich unversehens in einen Zeichenstift, der in Tiefen vordringt wie selten Wörter. Hin und wieder wird der Stift ihm zum Skalpell, das Dinge Schnitt um Schnitt häutet, um einen sehr dunklen Kern freizulegen. Dann wieder bezaubern die Zeichnungen in der Größe von Heiligenbildchen oder Illuminationen durch ihre unmittelbare figürliche Naivität.
Die kleine Lindenblüte in einer Kaffeetasse öffnet einen schier unbegrenzten Erlebnisraum, das Blatt mit dem Bildtitel „Nächtliche Fassade Versailles St. Louis an der Traumschwelle“ zieht den Betrachter in seinen Bann mit seinen Silhouetten hinter Fenstern und geheimnisvollen Wandgemälden, die schon als geheimnisvolle Zeichen aus Zonen des Unbewussten herüberschwappen, und in der Zeichnung „Schattentanz der Uferplatanenstämme an der Seine“ gesellen sich Poesie in Wort und Bild. Andere Blätter vermerken knapp Ortsnamen wie Stichworte für das Gedächtnis.
Über Zeichnungen hat Handke schon früh nachgedacht. So in „Der kurze Brief zum langen Abschied“ (1976) und in „Linkshändige Frau“ (1976). In den Buch „Vor der Baumschattenwand nachts“ wurde erstmals eine Reihe von Zeichnungen publiziert, die Handke eigenhändig aus seinen Heften ausgeschnitten und auf DIN-A-4-Bögen aufgeklebt und beschriftet hatte. Weitere gesellten sich hinzu, sodass nun über 100 Zeichnungen aus den letzten zehn Jahren zu bestaunen sind. Sie scheinen nicht aus dem Zusammenhang gerissen sondern wie reife Früchte ihrem Schöpfer in den Schoß gefallen zu sein, eigenständig, aufgeladen, Doppeltransformationen.
Dem Vernehmen nach zeigte sich das Deutsche Literaturarchiv Marbach, das Handkes Vorlass betreut, entsetzt über diesen Eingriff ins Gesamtwerk.
(Galerie Klaus-Gerrit Friese, Berlin, Meier-Otto-Str. 1; bis 2. September)
IRMGARD BERNRIEDER