Christoph Böll im Gespräch mit Peter Kremski und Irmgard Bernrieder
Super-8 hat bei Deinen Anfängen als Filmemacher eine entscheidende Rolle gespielt. Darüber hast Du angefangen, mit Filmkunst zu experimentieren. Wie bist Du zu diesem Medium gekommen?
Das hat Anfang der 70er Jahre begonnen, als ich in Bochum studiert habe – im Studienkreis Film, dem studentischen Filmclub der Ruhr-Universität. Da gab es diese wunderbare Beaulieu-Kamera. Mit der fing alles an. Mein allererster Film zeigt, wie jemand einen Weg hinuntergeht und im Gegenschnitt wird jemand aus dem Gebüsch gerollt, man weiß nicht, ob der tot ist. Schnitt, Gegenschnitt, Montage, das fand ich spannend. Das machte für mich den Unterschied zur Malerei und Fotografie aus. Die Art und Weise, wie sich über die Montage Emotionen zeigen und ausdrücken ließen. Wenn zum Beispiel jemand hinfällt und man schneidet auf einen anderen, der das gesehen hat. Man sieht, dass der lacht oder traurig ist oder Mitgefühl zeigt. So etwas montieren zu können, fand ich irre. Oder auch die Vorstellung, dass jemand in New York den Telefonhörer in der Hand hält und ein anderer in Sprockhövel, und in der Montage kannst du durch die Blickrichtung suggerieren, dass sie miteinander telefonieren.
Aus dieser Zeit hast Du für die Filmpräsentation im Museum fünf Filme ausgewählt und vorher noch einmal angesehen, die Dir besonders wichtig sind. Warum gerade diese Filme?
Im nachhinein sind die wichtig. Damals habe ich das noch nicht so empfunden. Zum Beispiel der Film von 1977: WIE SCHÖN IST DOCH DER BLICK AUS MEINEM FENSTER. Es ist sehr interessant, wie da Gefühle ausgedrückt werden – in Bildern, die im Kopf entstehen. Dieser Blick auf die Uni mit allen Schwierigkeiten, die ich mit ihr hatte und die ich auch ganz gut zum Ausdruck bringen konnte, indem ich sie am Ende in die Luft fliegen lasse. Das war der erste Film, in dem ich richtig bildsprachlich gearbeitet habe. Davor war das noch Spielerei gewesen.
Die anderen vier Filme entstanden zwischen Sommer 1979 und Sommer 1980, als ich mit meiner damaligen Freundin Susanne in Cinque Terre war, wo ich den Film IL GIGANTE gedreht habe. Darin habe ich sehr viel mit der Technik gespielt, mit diesem Zoomen und Reißen. Ich habe gemerkt, wie viel Spaß das machte. Und dann die Verbindung von Bildern und Musik, die in meinen Filmen immer eine große Rolle spielt.
Der nächste Film war DIDI BÖLL, ein Film, in dem sich auch die sich über einen längeren Zeitraum hinziehende Trennungsphase mit Susanne spiegelt, die zu dem Zeitpunkt mit ihrem neuen Freund nach Süd-Frankreich fuhr, und ich bin die ganze Strecke mit dem Fahrrad hinterher gefahren. Da habe ich eine kleine Canon-Kamera gehabt, mit der ich unterwegs gefilmt habe. Das war sehr schön, dass ich nicht allein war, sondern die Kamera bei mir war und ich ihr Bilder und Stimmungen anvertrauen konnte. Ich wusste, dass ich das mit den Bildern und der entsprechenden Musik später erzählen kann.
Der Film danach hieß FREU DICH BLOSS NICHT ZU FRÜH. Darin habe ich das auf die Spitze getrieben, dieses Offenbaren, dass es mir schlecht geht. Ich habe gefilmt und gefilmt und dann selbst gesehen, wie schlecht es mir geht. Ich hatte da so eine ganz merkwürdige Distanz zu mir selbst. Das selbst zu sehen, wie es ist, hat mir richtig gut getan. Besonders die Stelle im Film, an der sich mein Gesicht auflöst. Ich habe ein Foto von mir aufgehängt und das Negativ des Fotos darauf projiziert. Mit dem Negativ habe ich dabei gewackelt, das war ein phantastischer Effekt. Ich hatte eine Filmschlaufe geschnitten, die ungefähr 30 Sekunden dauert. Sie bestand aus einer zunächst etwas weiteren und dann näheren Aufnahme von mir. Ich habe die unentwegt laufen lassen und dabei gefilmt und mit rotem und mit grünem Lack auf die Projektionsfläche gesprüht. An einer Stelle habe ich zwischen meine Augen gesprüht. Das sieht aus, als hätte ich mir in den Kopf geschossen.
Als ich dann die Bildentwicklung sah, war das wie ein Hammer. Ich fand es beeindruckend zu sehen, welche tiefen Gedanken und Gefühle ein Bild auszudrücken vermag. Ich stellte fest, dass Film ein gutes Medium für mich ist, das mir die Möglichkeit gab, mich selbst auszudrücken.
Es folgte dann noch UN ANNO PIU TARDI, ein Nachfolgefilm zu IL GIGANTE. Da bin ich mit Susanne noch einmal nach Cinque Terre gefahren. Es war klar, dass das eine Abschiedstour war. In diesem Film habe ich dann im Gegensatz zu dem wilden und punkigen FREU DICH BLOSS NICHT ZU FRÜH sehr ordentlich gedreht und die Handkamera nur sparsam eingesetzt. Das war gewissermaßen eine gebändigte Kamera. Was ich früher intuitiv gemacht habe, habe ich hier schon geplant.
Früher gefiel mir dieser Film besonders gut. Nachdem ich ihn jetzt wieder gesehen habe, finde ich ihn ein bisschen langweilig, weil er so vernünftig ist. Da finde ich die anderen aufregender. Das Besondere an diesem Film aber ist, dass er auch in Schwarzweiß gedreht ist. Das war damals anders als heute. Dazu musste man sich extra Schwarzweißfilm besorgen, was besonders teuer war.
Und es gibt in dem Film ein paar Schlüsselbilder. Etwa ein Wasserfall, der die Form eines Auges hat und dazu noch etwas Sakrales – eine ganz merkwürdige Mischung. Das empfand ich als eine interessante Architektur.
In diesen Filmen hast Du sehr viel formal experimentiert, um herauszufinden, was Du mit der Kamera und mit den Bildern alles machen kannst.
Zum einen habe ich sehr viel mit der Technik experimentiert und die Kamera auf ihre technischen Möglichkeiten abgetastet. Zum anderen habe ich die Kunst des Schnitts durchs Machen gelernt. Ich merkte auf einmal, dass es eine Filmsprache gibt. Anfangs hatte ich alles, was ich machte, rein intuitiv gemacht. Wenn ich heute filme, konzipiere ich das schon in Schnitten und Gegenschnitten und schneide den Film schon im Kopf, während ich ihn drehe.
WIE SCHÖN IST DOCH DER BLICK AUS MEINEM FENSTER, der zwei, drei Jahre vor den anderen Filmen entstand, die als Zyklus zusammengehören, war vielleicht das grundlegende Schlüsselexperiment für die Entwicklung Deiner Filmkunst.
Dieser Film mit der Musik von Tangerine Dream, Rubycon Part II, hat mir schon beim Drehen Spaß gemacht. Mit der Schärfe zu spielen und mit dem Element der Kerzen.
Für den Film hatte ich einiges vorbereitet. Ich hatte Dias gemacht. An der Kamera gab es eine Halterung, wo man die Dias reinschieben konnte. Wenn man durch die Dias durchfilmte und die Schärfe in unendlich lag, dann hat das dadurch unscharfe Dia die Farben beeinflusst. Wenn man die Schärfe dann ganz langsam verlagerte, verschwand der Hintergrund in der Totalen und man sah auf einmal das Bild im Vordergrund beziehungsweise sah durch das Bild hindurch.
Was man einerseits sah, war die äußere Realität, also die Uni. Wenn man jetzt die Schärfe auf das Dia verlagerte, wurde dieses durch das dahinter durchschimmernde Bild auch wieder farblich und lichtmäßig beeinflusst. Das war dann eine umgekehrte
Beeinflussung. Wenn man dabei die Kamera bewegte, ergab sich ein zusätzlicher Effekt. Man sah das Bild zwar scharf, aber dahinter tat sich etwas, ohne dass man genau wusste, was. Um solche Effekte ging es mir. Auch die Effekte mit den Kerzen oder mit der Tinte im Wasser fand ich sehr schön.
Auf den Dias waren verschiedene Sachen zu sehen. Da gibt es etwa einen Moment, in dem ich als alte Frau verkleidet die Treppe herunter und um die Ecke komme. Das machte weiter keinen Sinn. Der Sinn lag in den technischen Übungen und nicht in solchen Inhalten. Viel interessanter war es zu sehen, wie das Bild erhalten blieb, wenn man die Schärfe auf das Dia legte, und wie es sich veränderte, wenn man mit der Kamera herumschwenkte. Die Bilder beeinflussten sich gegenseitig. Das Bild, das im Unscharfen lag, beeinflusste das, das im Scharfen lag. Ich fand es spannend, diese Veränderungen zu beobachten.
Was für eine Rolle spielten die Kerzen?
Die Kerzen waren Symbole der Schwermut. Die Uni war noch gar nicht fertig und noch immer eine riesige Baustelle. Dazu war es Winter, die Bäume hatten keine Blätter. Das war alles furchtbar trist. Das spiegelte aber genau wieder, wie es mir ging. Die Kerzen habe ich dann so eingerichtet, dass sie eine bestimmte Tiefenschärfe hatten oder brauchten. Es war nicht so, dass man alle drei scharf sehen konnte; das war mal die eine, mal eine andere. Und wenn man dann die Schärfe auf die unbelaubten Bäume legte, sah man das Kerzenlicht nur als helles Fleckchen. Wenn man nun noch etwas gegen die Kerzen pustete, bewegte sich dieses Licht. Das kriegt dann so eine Aura, wird zur Seele. Wenn die Unschärfe auf der Kerze liegt und man in der Schärfe die Bäume sieht, kann das aber auch so aussehen, als würde die Sonne durch die Bäume strahlen.
So ein Kerzenlicht ist für mich etwas sehr Emotionales. Vielleicht weil ich früher Messdiener war.
Die Tinte im Wasser ist ein anderer Effekt und Teil eines Bildexperiments mit einem einsamen Goldfisch in einem bowlenförmigen Wasserglas.
Das war auch ein interessantes Experiment. Ich habe erst den Film gedreht und geschnitten. Dann habe ich mir den Fisch im Aquarium besorgt, auf das ich von hinten Butterbrotpapier geklebt habe, um dann darauf den Film zu projizieren. Der ganze Film läuft in diesem Moment noch einmal im Zeitraffer ab. Dadurch bekommt auch der Fisch eine sehr hektische Bewegung. Und man sieht den Film noch einmal komplett im Schnellverfahren. Das ist der Moment, in dem ich mir gewissermaßen alles noch einmal vor Augen führe und mich dann entschließe, die Uni in die Luft zu sprengen. Also ein Moment des Reflektierens. Und natürlich mit dem armen Fisch.
Mit dem Du dich identifizierst.
Auf alle Fälle.
Wenn die Uni in die Luft gesprengt wird, sind wir schon beim nächsten Filmexperiment.
Da habe ich Dias von der Uni gemacht und auf einen weißen Bogen Papier projiziert. Dann habe ich mit einem Stift die Stellen eingezeichnet, wo die Fenster waren. Danach habe ich die Fenster ausgeschnitten und dort Kammern mit Schwarzpulver angebracht. Von vorne wurde schließlich mit dem Diaprojektor die Uni auf das Papier projiziert, während ich von hinten gezündelt habe. Das wurde im Freien gemacht, so dass der Wind die Asche verweht. Der Effekt war ganz gut. Da gibt es fünf Sekunden, die ich besonders gelungen finde. Heute könnte man diese fünf Sekunden ganz einfach verlängern und digital damit spielen. Damals war das nicht möglich. Damals wurde das eben angebrannt und abgebrannt, das war’s dann. Aber ich war schon erstaunt, wie gut das geworden war. Es macht mir Spaß, so etwas auszutüfteln. Solche Aufgaben löse ich gern.
Im Nebeneffekt sieht es natürlich so aus, als würden auch die Bilder brennen. Es sind ja die Bilder, die Brandstellen haben. Als würdest Du auch den Film verbrennen und die Bilder vernichten, die Du machst.
Eigentlich wusste ich gar nicht, was da alles abgeht. Aber wenn ein Film sich verhuddelt und durchbrennt, ist das unter künstlerischen Aspekten natürlich ein spannender Prozess. Bei der Technik, die ich verwandt habe, muss man die Sache irgendwann laufen lassen. Man kann das nicht steuern. Man hat den Ablauf zwar initiiert, kann das, was passiert, aber nicht kontrollieren. Ich konnte das dann nur schön finden, wie der schwarze Qualm da heraus kam und das Papier, auf dem die Projektion war, geschwärzt hat.
Als Musik dazu hast Du ein Stück von Tangerine Dream verwendet, das so gut dazu passt, als wäre es dafür gemacht.
Ich konnte mich immer darauf verlassen, dass ich intuitiv die richtige Musik finde, die ich brauchte. So war das bei Tangerine Dream auch. Rubykon Part Two, dieses Stück war für mich wohl eine Art Offenbarung. Dadurch bekommt der Film natürlich etwas Psychedelisches. Und dass heute bei der Musik zu einem aktuellen Film von mir Steve Schroyder dabei ist, der Anfang der 70er Jahre bei Tangerine Dream gespielt hat, ist wie eine glückliche Fügung. Das freut mich sehr.
Zum einen findet sich in diesem Film hier zeitgeistig das Psychedelische, zum anderen vielleicht auch das Punkige, wovon Du ja schon in Bezug auf FREU DICH BLOSS NICHT ZU FRÜH gesprochen hast.
Film als Punk ist natürlich auch schön. Das kann man ja noch in meinem 2012 entstandenen Film ABRISS EINER KIRCHE erleben. Da habe ich in Bochum den Abriss eines Redemptoristen-Klosters mit dazugehöriger Kirche gefilmt. Wie der Bagger da wütet! Die Zellen der Mönche werden wie Rüben zerschnippelt. Das ist von einer unglaublichen Brutalität. Dazu dann das Orgelspiel in der Kirche. Die Bilder davon haben eine beeindruckende Kraft. Ein Kloster abzureißen, ist schon eine wahnsinnige Leistung.
Zwischen diesen beiden Filmen liegen fast vierzig Jahre. In beiden Filmen geht es um Zerstörung. Zerstörung eines Gebäudes: die Universität, ein Kloster. Vielleicht auch um das Zerstören von Bildern. Siehst Du diese Filme in Verbindung miteinander?
Ich sehe da insofern eine Linie, als ich gelernt habe, dass man manche Dinge zerstören muss, um sie zu erneuern. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Aber im Prinzip finde ich das gut. Das hat etwas Radikales und manifestiert eine Entschlossenheit.
Ich habe ja selbst in der Kirche gestanden, als sie abgerissen wurde. Erst da merkte ich die Vielheit von Bögen, die es architektonisch in ihr gab. Da musste ich an diejenigen denken, die die Bögen gebaut haben in der Meinung, das sei für die Ewigkeit. Wenn man jetzt sieht, wie das ganz schnöde wieder abgerissen wird, begreift man, wie sehr diese ganze katholische Symbolik nur eine große Illusion war.
In diesem Film findet man ein formales Element, dem man in Deinen Filmen immer wieder begegnet: die lange Überblendung. Zwei Bilder überblenden miteinander, und die Überblendung selbst ist ein neues, künstlerisch ausdrucksstarkes Bild.
Formal finde ich Überblendungen wunderbar, weil sie das Bild brechen. Die Überblendung läuft auf einen Punkt zu, an dem das Bild bricht. Dieser Moment fasziniert mich. So etwas gibt es nur beim Film, nicht in der Malerei. In der Malerei kann man so einen Moment zwar festhalten, aber im Film sieht man ihn kommen. Ich finde das toll, wenn da zwei Bilder zusammenkommen, die ganz verschieden sind und trotzdem etwas gutes Neues bewirken. Dieser Übergangsmoment mit den sich dort ergebenden Formen und Farben ist sagenhaft spannend. Deshalb liebe ich Überblendungen. Je länger, umso schöner.
In ABRISS DER KIRCHE sieht man solche Überblendungen während des Orgelspiels in der Kirche.
Was da aufeinander prallt, ist dieses Statische der Kirche und dann die Finger- und Handbewegungen des Orgelspielers. Da geht es auch darum, das etwas Altes verlassen wird und langsam verschwindet, bis es hinterblieben ist. Und etwas Neues wird sichtbar. Ein Raum ist in solchen Momenten nicht mehr er selbst. Er ist entfremdet. Man schafft etwas Neues, auch einen neuen Raum.
In Deinen frühen Filmen hast Du auch schon mit solchen Überblendungen gearbeitet.
Bei den Super-8-Kameras waren die Überblendungen aber auf drei, vier Sekunden beschränkt. Man musste da schon sehr genau vor Ort inszenieren. Später ließ sich dann nichts mehr korrigieren, weil das Negativ ja nun einmal belichtet war.
In IL GIGANTE gibt es so einen Moment, als die Züge vorbeifahren. Ich liebe Züge. Wenn sie bei mir vorm Fenster vorbeiführen, hätte ich nichts dagegen. Dann würde ich das den ganzen Tag filmen. Ähnlich geht mir das auch so mit Schiffen.
In IL GIGANTE fährt der Zug sogar senkrecht durchs Bild.
Er fährt nach unten.
Fallen Dir spontan weitere Beispiele Deiner Überblendungskunst ein?
Überblendungen haben mich immer gereizt. Heute finde ich es super, dass man beim digitalen Filmemachen die Überblendung auf den Punkt genau starten kann und dabei das Bild eventuell noch so korrigieren kann, dass da wirklich etwas ineinander übergeht und etwas ganz Neues entsteht.
Ich habe jetzt mehrere Trailer für die Ausstellung im Osthaus Museum geschnitten. Immer endet es mit diesem Blick im Kühlturm. Aber ich habe die Überblendung auf den Blick im Kühlturm jedes Mal länger gemacht. Im Moment nimmt sie zeitlich fast ein Drittel des gesamten Trailers in Anspruch. Man schaut dann am Ende in einer bizarren Aufwärtsperspektive die inneren Kühlturmwände hoch und quasi aus dem Kühlturm hinaus. Oben öffnet sich der Kühlturm zum Kreis, der in die Überblendung eine unglaubliche Ruhe bringt.
Der Kreis ist auch ein Auge, das zurückblickt. Aber auch Endpunkt eines Lichtkegels. Oder das Rund einer Sonne, die eine Projektion sein könnte. Eine Illusion, ein Zaubertrick…
Der Kreis hat eine unheimliche Kraft und ist mit seiner Helligkeit enorm präsent. Er verschwindet erst ganz zum Schluss.
Und dann dürfen wir die Überblendungen in KIRMES nicht vergessen.
Da ist das sich drehende Riesenrad, aus dem heraus ich filme. Man sieht viel Bewegung, aber auch, wo was ist, und hat damit einen Überblick über das Ganze. Und dann das Riesenrad selbst, gefilmt aus einer gewissen Distanz. Wenn man beides miteinander überblendet, verliert beides seine Ruhe. Das ergibt etwas sehr Spezielles. Dann der Moment, wenn die Überblendung an ihr Ende kommt und das Bild sich langsam wieder beruhigt. Diesen Prozess zu beobachten, ist ein Fest für meine Augen.
Der Kirmes-Film war ein lang gehegter Wunsch von mir. Ich wollte immer schon mal die Bewegungen der Kirmes filmen, weil die zum Teil so richtig abgefahren sind. Da gibt es Karussells, die sich nach links und rechts drehen. Und dann diese wahnsinnigen Geschwindigkeiten. Damit ging für mich ein großer Wunsch in Erfüllung. An dem Abend, als wir drehten, hat es allerdings ziemlich geregnet. Wir dachten schon, das wird heute nichts. Es war kaum Publikum da, es gab gar keine Kirmes-Stimmung. Tagsüber hatten wir mit Prüfern vom TÜV verschiedene Fahrgeschäfte besucht. Man kannte uns schon. Uns wurde deshalb viel Vertrauen entgegengebracht. Aus diesem Grunde konnte ich bei Karussellfahrten auch so nahe herangehen, dass die Fahrten 40 cm vor mir vorbeirauschten. Dadurch erlebe ich das Entstehen dieser Geschwindigkeitsbilder selbst als Rausch.
War die Kirmes als Filmmotiv für den TÜV-Film eine Idee des TÜV selbst?
Nein, Kirmes stand auf einer Liste von Möglichkeiten, wo man mit dem TÜV überall hinkommt und was man folglich machen könnte. So war ich etwa auch im Atomkraftwerk Biblis. Ich war im Kohlekraftwerk Neurath. Ich war in Nürnberg in Laboren, in denen Stühle getestet werden. Oder in Köln in Laboren, wo Solarzellen aus Testgründen mit künstlichem Hagel beschossen werden. Das habe ich auch alles gedreht. Oder auch, wie Kuscheltiere angezündet werden, um zu testen, ob die Flammen von selbst wieder ausgehen. Anderen dieser Kuscheltiere wird an den Nasenknöpfen eine Maschine angesetzt, die den Tieren die Nase lang zieht, um zu testen, ob Kinder das Ding womöglich abbeißen und dann verschlucken könnten. Es ist erstaunlich, was es alles für Tests gibt.
Einer der schönsten Tests ist die so genannte Normverschmutzung. Da werden mit Spinat Teller eingepinselt, es sind immer 2,5 Gramm, so dass sich der Versuch in der ganzen Welt wiederholen lässt. Dann wird das auch mit Haferschleim gemacht, dann mit Ei. Ich habe das von oben gefilmt, das sieht lustig aus. Die Farben sind immer wieder andere. Und auch schon dieser Begriff Normverschmutzung ist super. Man kommt durch den TÜV an hochinteressante Orte und lernt viel kennen. Ich habe im letzten halben Jahr wahnsinnig viel gedreht, die ganzen Labore des TÜV Rheinland besucht und die Versuche dort gefilmt. Das ist ein unglaublich reiches Bildarchiv. Und ich habe ein gutes Gedächtnis für Bilder. Ich weiß immer, wo ich das Material für meine Ideen finde.
Aber auf diese Weise bin dann eben auch auf die Kirmes nach Bad Dürkheim gekommen. Da habe ich mich an meine alten Wünsche erinnert. Das ist eine alte Idee von mir, unter einer Riesenradkabine eine Kamera anzubringen. Das ergibt eine Aufnahme, die ist phantastisch. Wenn man bedenkt, dass man das mit einer Kamera macht, die nur 400 Euro kostet, und dann zum Vergleich an die Kosten eines Weltraumfilms denkt. Mit der heutigen Kameratechnik lassen sich grenzenlos Ideen realisieren.
Die Kirmes wirkt in Deinem Film dann in der Tat wie eine Odyssee im Weltraum. Das Riesenrad erscheint nicht weniger eindrucksvoll als eine Weltraumstation bei Stanley Kubrick.
Das Riesenrad drehte sich und ich wollte schwenken, merkte aber, ich stehe nicht richtig. Da musste ich im Drehen die Kamera nach hinten kippen. Daraus ergab sich eine irre Perspektive. Das sind wirklich Effekte wie bei einer Odyssee im Weltraum. Wenn man das dann noch mit der sinfonischen Musik von Gustav Mahler verbindet! Man hat den Eindruck, die sei geradezu dafür geschrieben.
Die Kirmes wird zum Phänomen. Sie wird aus ihrem Realitätszusammenhang gelöst. Sie wird zum absoluten Film aus Formen und Farben, zu einem reinen Filmkunstwerk.
An der Farben habe ich etwas geschraubt. Es sollte auch alles richtig blinken. Aber die Form des Kunstwerks ist real. Und das gilt auch für die Reflexe. Auf der Außenfläche der Kabinen reflektieren sich viele Lichter. Das ist wie in FREU DICH BLOSS NICHT ZU FRÜH, wo ich Lackfarben sprühe, in denen sich das Licht des Projektors spiegelt. Aber hier sind die Reflexe schon da. Das ist selbst schon eine Art internes Kunstwerk.
Und es zeigt sich natürlich die ganze Schönheit der Geräte. Ich finde das Funktionieren ineinander greifender Maschinen ungeheuer spannend. Wenn man, aufgenommen aus der Kameraperspektive unter der Riesenradkabine, dann von oben den Blick auf alle diese anderen Maschinen hat, die sich drehen, hat man den Eindruck eines riesigen Uhrwerks, das nur in der Zusammenarbeit seiner Einzelteile funktioniert. Dieser Dreh war ein Geschenk.
Maschinenkunst im doppelten Sinne: die Maschine Kirmes, gespiegelt in der Filmmaschine. Als einzige Menschen in die Maschine integriert: zwei Mädchen, die sich amüsieren. Nur kurz mal auftauchend in kunstvollen Überblendungen.
Die Mädchen spielen eine wichtige Rolle für den TÜV. Es ist ja der TÜV, der dafür sorgt, dass Menschen sich solchen Situationen aussetzen dürfen, um sie dann genießen zu können. Was die dort machen, ist ja so etwas wie fliegen. Die Maschine dreht sich in die eine Richtung und die Sitze in die andere. Die Menschen überschreiten ihre Grenzen, erhalten die Freiheit auszuflippen. Und die beiden Mädchen machen das grandios.
Ein ganz besonderer Effekt in KIRMES ist ein Kaleidoskop-Effekt. Wie hast Du den kreiert?
Ich habe oft darüber nachgedacht, wie formale Muster entstehen, die sich unendlich fortsetzen. Ich habe das dann ausprobiert, einen Film über Wasser gemacht, darunter Didgeridoo-Musik gelegt und das Bild vervierfacht, gespiegelt und gedreht. Jede Bewegung läuft auf dieselbe Ecke zu. Daraus ergibt sich tatsächlich so ein Muster. Das bleiben immer noch Naturaufnahmen, die man aber jetzt auf eine phantastische Weise sieht.
In dem Film KIRMES nun sitzen die beiden Mädchen in einem Gerät, das heißt Take off. Da gibt es viel Licht, viel Qualm, das ist alles ganz wild und hat ein rasendes Tempo. Diese Situation habe ich aus großer Nähe gefilmt und später dann den ausprobierten Effekt bei diesen Bildern angewandt. Das Ergebnis wirkt sehr psychedelisch, ganz im Sinne von Pforten der Wahrnehmung. Dann habe ich das zur Musik von Gustav Mahler montiert. Als ich mir das dann selbst zum ersten Mal angesehen habe, hat es mich vom Stuhl gerissen. Durch die Verkleinerung auf ein Viertel ihrer ursprünglichen Größe wurden die Bilder noch schärfer. Dadurch sieht man diese Muster in einer unglaublichen Klarheit.
Eine erweiterte Wahrnehmung.
Mit der Musik von Gustav Mahler unterlegt, kam der Film auf Umwegen zu den Musikern von Dream Control, die auf diesen Film total abgefahren sind und spontan angeboten haben, dazu noch mal eigene Musik zu machen. Jetzt liegt der Film in zwei Musikversionen vor. Das ist jedes Mal ein anderer Film. Mit der Musik von Mahler ist der Film hochemotional und psychedelisch. Die Musik packt dich von hinten, zerrt dir an den Haaren und streichelt dich. Mit dem Sounddesign von Dream
Control sieht man die Bilder völlig anders, viel klarer, als würde das Gehirn von einem Gebirgsbach durchspült. Das ist ein ganz unterschiedliches Erleben, und ich bin sehr dankbar, dass es diese Möglichkeit, den Film so unterschiedlich zu hören und zu sehen, jetzt gibt. Das zeigt, wie ein und derselbe Film verschiedene Wahrnehmungsmöglichkeiten transportieren kann. Auch die Mädchen kommen in den beiden Filmversionen unterschiedlich rüber.
Der Film ist wie ein Rausch. Ich habe ihn in nur einer Nacht geschnitten. Die Mahler-Musik hat mich immer weiter getrieben. Zur Ausstellungseröffnung zeigen wir die Mahler-Version, und eine Woche später kommen die Jungs von Dream Control und spielen live ihre Musikversion ein. Das sind sehr verschiedene Pforten der Wahrnehmung.
Das Kaleidoskopische ist wohl auch ein wichtiger Faktor der Ausstellungskonzeption.
Im Kaleidoskop werden Bewegungen im Bild vergrößert und intensiviert. Das Originalbild wird auf ein Viertel heruntergefahren, so dass es in der neuen Bildkonstruktion viermal vorhanden ist. Durch Drehung und Spiegelung sind die Bewegungen jedoch gegenläufig. Dadurch entsteht dieser Rausch-Effekt.
Im großen Ausstellungsraum werden die Bilder wandfüllend auf eine zentrale Wandfläche von 10 m x 7,50 m projiziert und zusätzlich auch noch auf die angrenzenden Wände. Indem die rechte und die linke Projektion gespiegelt sind, gibt es keine Nahtstellen an den Ecken. Es geht ringsum wie in einem Panorama, wiederholt sich aber als Muster. Der Betrachter steht mittendrin, und sieht das noch alles, wenn er den Blick wendet. Hier hat man einen Kaleidoskop-Effekt auf anderer Ebene. Auch das hat etwas Rauschhaftes.
Manche Filme, die dort projiziert werden, sind dafür wie geschaffen. Der TÜV-Film KIRMES zum Beispiel. Oder auch die für ThyssenKrupp entstandenen Stahl-Filme mit den darin dargestellten schnell und präzise arbeitenden Maschinen und der tollen Musik-Collage von Stephen Keusch. Andere Filme, die dort projiziert werden sollen, sind ABRISS DER KIRCHE und aus dem Imdahl-Zyklus SANDMÜHLE in einer Mosaik-Konzeption.
Du bist auch Maler. Was bedeutet das für Deine Filmbilder? Wie kreierst Du sie? Hast Du eine bestimmte Arbeitsweise, ein bestimmtes Drehkonzept fürs Bildermachen.
Um etwas zu filmen, suche ich nach einem Standpunkt, und der bleibt das dann auch. Ich stelle de Kamera dort hin, schaue einmal durch und stelle fest, da steht sie gut. Früher dachte ich, man müsste doch mal den Standpunkt wechseln, aber damit unterbricht man die Aufnahme. Heute stelle ich mir diese Frage gar nicht mehr. Wenn ich mit der Kamera irgendwo stehe, dann stehe ich da.
Wenn ich allein filme, benutze ich häufig jedoch eine zweite Kamera. Die stelle ich dann irgendwohin als Joker. Dieser Joker macht oft unglaublich präzise Aufnahmen aus Perspektiven, aus denen ich selbst gar nicht drehen könnte.
Zum Beispiel habe ich für das Imdahl-Filmprojekt SEHENDEN AUGES in Richard Serras Raum-Installation Circuit gefilmt. Die Tänzerin Edith Rudorff aus dem Ensemble von Pina Bausch habe ich gebeten, zwischen diesen vier Stahlwänden zu tanzen. Um sie von vorne zu filmen, habe ich mir als Standpunkt für meine Kamera eine Stelle hinter den Stahlwänden gesucht. Die vier Stahlwände laufen nach oben hin aufeinander zu. Darüber habe ich ein Brett gelegt, auf das ich meine Joker-Kamera postiert habe, um von dort oben noch ein Bild zu machen. Durch dieses Bild von oben verlieren die Stahlplatten erstaunlicherweise ihre ganze Wucht. Man sieht nur noch dünne Striche. Es ist total spannend, wie man die Kraft der Platten dadurch reduzieren kann. Der Joker hat das aus genau dem richtigen Blickwinkel aufgenommen.
Du machst Deine Filme häufig im Alleingang. So wie ein Maler seine Bilder ganz alleine malt. Machst Du – in diesem Sinne – Deine Filme wie ein Maler?
Unbedingt. Ich brauche keine fremden Ideen. Das meine ich ganz ernsthaft. Ich möchte das alles alleine machen.
(Das Gespräch fand im April 2015 statt)