Christoph Bölls frühe Filme
Ausnahmezustand: Juli 2015, vormittags, ein kleines Kino. Im muffigen Dämmer leere Sitzreihen, bis auf drei Plätze, wo zwei Männer und eine Frau sitzen, um sich Filme anzusehen. Der Älteste von ihnen hat sie in ihrer gemeinsamen Studienzeit gemacht. Das ist nun rund 40 Jahre her, und so stellen sich, während in der Vorführkabine noch hantiert wird, auf der leeren Leinwand Erinnerungsbilder ein: Christoph Böll über das Schneidegerät gebeugt. Mit fast unmerklichen Fingerbewegungen öffnet er alte Klebestellen und scheint ganz versunken seinem inneren Rhythmus zu folgen, wenn er mit unendlicher Geduld und Hingabe den empfindlichen Super-8-Film neu schneidet. Wie oft wird dieser Filmstreifen gegen das Deckenlicht gehalten und mit zugekniffenem Auge geprüft, ob die Syntax der Einzelbilder stimmt, dann in der kleinen Maschine die Filmenden aneinandergelegt, das durchsichtige Klebeband darüber gezogen und klack, klack mit dem Hebel fest angedrückt. Eine von unzähligen Schnittstellen nur. . .
An diesem Vormittag geht es um mehr, als Filme zu sichten. Wir wollen schauen, schauen, bis uns die Augen übergehen, um zu erkunden, was wir einst übersehen haben: den Künstler im Freund, der von einem experimentierenden Laien zum Film-Künstler wurde. Von einem, für den das Filmen anfangs, in der Unsicherheit seines Daseins als sein eigener Zauberlehrling zu innerer Klarheit führte, indem das gestalterische Tun sein Gefühlschaos ihm erträglich machte. Das Brummen der Kamera reinigte Herz und Seele und besänftigte ihn. Bis heute filmt er nicht ab, was Wirklichkeit genannt wird, sondern, was er sieht. Gemäß der Erkenntnis, du siehst nicht, was du siehst, du siehst, was du bist, schlägt Christoph Böll ja selbst in seinen Dokumentarfilmen sein inneres Auge auf. Der handwerkliche Aspekt spielte für den Filmkünstler immer eine wesentliche Rolle, und so mutet es nachgerade an wie eine Laune der Götter, dass nun in der Gegenwart der digitalen Kameratechnik und des elektronischen Schnitts eben diese Technik in den Mittelpunkt seines jüngsten künstlerischen Vorhabens rückt.
Die zentrale Installation im Osthaus-Museum zeigt sich zum einen als technische Novität und Höhepunkt einer künstlerischen Entwicklung, zum anderen laden acht Monitore die Besucher dazu ein, den künstlerischen Weg zu erkunden, den Christoph Böll in seiner über vierzigjährigen Laufbahn als Regisseur und bildender Künstler bis zum aktuellen Punkt gegangen ist.
Die vorbereitende Sichtung ist ein Wiedersehen mit einem Abschnitt unserer eigenen Geschichte und die erstaunte Entdeckung von nie „so“ gesehenen Bildern. Alles im Fluss, hat die Welt, haben wir und unser Blick sich gewandelt. Und weil wir unser Leben immer nur vom Ende betrachten können, laufen neben des Freundes frühesten, ältesten Filmbildern auf unserer Leinwand immer auch seine jüngsten, zuletzt gesehenen Bilder mit. Mit dem Philosophen Henri Meschonnic (1) gesprochen, erkennen wir vom Ende her, wie schwer es ist, „verstehen zu lernen, dass man nicht weiß, was man tut“.
Der junge Mann aus Köln, der zum Studieren nach Bochum gezogen war, und nun in einem Betonturm des Uni-Centers herumlungert, auf die Baustelle Ruhruniversität glotzend und nicht recht wissend, wohin, und was, und überhaupt, fängt die Beaulieu-Kamera des universitären Studienkreis Film auf wie einen Rettungsring. Das neue „Spielzeug“ lenkt ihn vom Trübsinn des Seminarbetriebs ab, die Linsen helfen ihm, imaginäre Bilder gegen die graue Wirklichkeit zu erschaffen, die ihn entzücken und seiner tiefen allgegenwärtigen Melancholie Ausdruck verleihen. Christoph Böll verwandelt sich in einen Alchemisten, der – wie wir heute begreifen – langfristig sich selbst verwandelt hat. Die Kameratechnik scheint in des jungen Magiers Hand als Zauberstab zu fungieren.
Er hört viel Rock- und Popmusik damals und probiert manches aus. Eine flackernde Kerzenflamme etwa. herangezoomt, so nah, dass sie in einem Lichtsee verschwimmt und ungegenständlich wird. Der junge Filmemacher experimentiert mit naiv anmutenden Mitteln der Verzauberung, wenn er etwa Tinte in ein Wasserglas träufelt und die Auflösung der dunklen Schlieren im Wasser filmt. Wir sprechen hier von Einstellungen eines seiner ersten Super-8-Filme „Wie schön ist der Blick aus meinem Fenster“ (1977, 18 Min.), gefilmt von seinem Schreibtisch im obersten Stockwerk des Studentenheims, in dem er lebt. Schnelle Zooms, Überblendungen und harte Schnitte bilden den Takt, der vorzüglich korrespondiert mit den stark rhythmisierten Stücken der elektronischen Musik von Tangerine Dream („Rubycon part II“) und deren fließende Passagen in Lichtreflexen und Spiegelungen kongenial optisch übersetzt.
Im Grunde ist in diesen 18 Minuten alles schon vorhanden, was seine Filme bis heute prägt und unverwechselbar macht.
Christoph Böll ist Autorenfilmer, ein Ideal jener Jahre, das – ausgehend vom „auteur“ des französischen Films – die Regisseure des Jungen deutschen Kinos in den 1970er Jahren dankbar aufnahmen.
Er hat eine Idee, die er verfilmen will. Er wählt das Filmmaterial aus. Er organisiert die Dreharbeiten, bei denen Freiwillige unentgeltlich assistieren, und er legt den Film in den Projektor, um ihn herzuzeigen. Christoph Böll arbeitet assoziativ: Er lässt sich von momentanen Eindrücken und Stimmungen anregen und vertraut auf sein Gefühl, das ihn von Einstellung zu Einstellung leitet. Ein Drehbuch lehnt er ab, weil er weiß, wie viele Unwägbarkeiten dieses Struktur-Gestell einstürzen lassen können. Im Schnitt gießt er dann seine Licht-Gedanken-Impressionen in so etwas wie syntaktische Formen, Strophen, Verse.
„The „interactive mode“ (2) zeigt sich in Bölls frühen Filmen ganz unverstellt, sei es in Szenen, in denen Freunde auftauchen und stumm bleiben, oder wenn sie „mitspielen“. „Il Gigante“ (1980) und der zweite Italien-Film „Un Anno piu tardi – ein Jahr später“ entfalten die Seelenwelt des Künstlers. Selbstbespiegelt als Spiegelung einer Innenwelt in Natur-Anschauungen. Etwa wenn er vorgibt, Kopf zu stehen, und die Kamera über seinen nackten Körper wie über eine Landschaft gleitet: Aug in Aug mit sich ist er da. Dann verharrt die statische Kamera lange auf einer steil aufragenden Bergwand oder einer in den Fels geschlagenen Karyatide, und wir wissen, wie symbolisch diese Einstellungen zu lesen sind: Da geht es um Berge von Problemen, Abgrund und Absturz. Seine zutiefst romantische Sehnsucht nach Freiheit und Auflösung im Unendlichen flutet in betörend schönen Wasser-Einstellungen ins Auge des Betrachters: In langsamen Schwenks über eine Meeresbucht, langen Blicken auf die ewig bewegten, tanzenden, sich kräuselnden, aufblitzenden Meereswellen und gleißende Wasserflächen, die mit dem Licht sich vermählen. Diese Naturmetaphorik ist per se durchtränkt von Wehmut, weil ihrer eigenen Überzeitlichkeit die Endlichkeit des menschlichen Daseins entgegensteht. In „Il Gigante“ hat dieser Weltschmerz ein Gesicht: Lorenzo, 28 Jahre . . ,auf einer Grabplatte des Friedhofs von Monte Rosso, Jahrgang 1949 wie der Künstler selbst.
Außenwelt und Innenwelt treffen hart aufeinander: In der Manier früher Stummfilm-Sketche versucht ein junger Mann (der Regisseur selbst) vergeblich, eine junge Frau zu einem Stelldichein zu überreden. Eigentlich spielen da der Regisseur und seine damalige Lebensgefährtin miteinander, und wenn sie ihm die kalte Schulter zeigt, geht der Kamerablick nach innen, und wir sehen des Abgewiesenen träumerische Zartheit und Verzweiflung in sprechenden Landschaftsbildern. Immer verstärken dann ausgewählte Musiktitel die suggerierten Gefühle und kommentieren sie auch durchaus selbstironisch. Christoph Böll meint es ernst und ist verschmitzt dabei, wobei die Imagination stets Vorrang vor der Realität hat. Warum sonst führe ein Zug senkrecht durchs Bild?
Warum kokettiert er im Prolog zu „Didi Böll“ mit seinen Zuschauern und ersucht diejenigen, die ihn nicht leiden können, den Saal zu verlassen? Weil er Anerkennung sucht, das aber auf keinen Fall zugeben will.
Mit einem seinerzeit populären Radrennfahrernamen tarnt Christoph Böll seinen Liebesfilm „Didi Böll“ (1980) und versteckt seine Tour d’amour, die auch eine Selbstfindung ist, in der Diktion der Wirtschaftswunder-Werbung hinter dem Untertitel „Ohne Uhr auf großer Tour“. Beide Titel triefen vor Selbstironie, und da sie bei einer Filmproduktion zu allerletzt entstehen, bezeugen sie den Abstand des Produzenten zu jenen Problemen, die ihn zu seinem großen Fahrradtrip auf regennasse Straßen trieben, durch triste Landschaften und in gottverlassene Winkel. Was er seinem imaginären Reisetagebuch anvertraut, hören wir aus dem Off als inneren Monolog ihn sagen, während wir Stationen seiner Reise vorbeigleiten sehen. „Ich denke gern an Dich“, spricht seine Seele mit der entfernten Geliebten, und „Ich fühle Angst und Freude, dich wiederzusehen“. Die am Fahrradlenker festgeschraubte Kamera filmt Bölls subjektive Sicht auf die Strasse, während er laut atmend vor sich hin strampelt, durch die Eifel und Frankreich seitlich querend, bis hinunter nach St. Vivien an die westlichen Atlantikküste. Unterwegs zu sich, bespiegelt er sich, ja badet im Welt- und Auflösungsschmerz einer langjährigen Liebesbeziehung. Passend zu Bölls Gemütsverfassung weint der Himmel, und Regentropfen auf der Kameralinse werden wie Tränen inszeniert.
Böll holt alles, was die Kameratechnik damals, Anfang der 1980er Jahre, zu bieten hatte, aus der Beaulieu heraus: Er setzt den Zeitraffer ein, er benutzt die Einzelbildschaltung, und er zieht die Bilder mit dem Zoom heran in einer schwebenden Bewegung oder stroboskopisch in kurzen, schnellen Wiederholungen. An dieser internen Filmgliederung, die ja nichts anderes darstellt, als die filmeigene Zeit, mag der Betrachter des Künstlers inneren Rhythmus erahnen, seine Seele schwingen spüren und sich berühren lassen.
Als kurioses Requisit erscheint die als Zeige-Stab verwendete Silvesterrakete im „Didi-Böll“-Prolog, die ins Gehirn des Betrachters „zischt“ wie andere „Kleinigkeiten“ in Christoph Bölls Filmen. Dazu finden wir In einem Text von Roland Barthes, der 1980 veröffentlich wurde, ein von ihm in der Fotografie identifiziertes und visuelles Phänomen: Das Punktum. Ein oft kleines, zunächst unscheinbares fotografisches Detail, das auf subtile Weise das Unterbewusstsein des Betrachters des Fotos anspricht und letztlich seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. (4)
„Geschafft!“ atmet unser Held auf, als er unter Strandpinien von seinem Drahtesel steigt. Er hat seinen Plan trotz mancher Unbill verwirklicht, mehr aber auch nicht. „Saint Vivien“ weist uns ein Schild den Ort, und die Kamera zeigt uns ein Zelt, aus dem das Subjekt aller Sehnsucht und Angst heraustritt. Meint dieses „geschafft“ nicht insgeheim auch den Sieg über die eigene Lethargie wie Eichendorffs Taugenichts ihn so trefflich beschreibt: „Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten stolz und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte.“ (5) Erfolgreich bekämpft hat er die Niedergeschlagenheit im Bergauf und Bergab seines Weges. Er konnte die Abfahrten nicht genießen, erzählt der Hauptdarsteller und Regisseur einmal; immer habe er an den unausweichlichen nächsten Aufstieg denken müssen. Er erhofft auf seiner Tour nicht, das Gruseln zu finden (6). Das nistet ohnehin in ihm, und wenn es schläft, hat er einen leichten Schlaf. Er, der Ex-Ministrant und streng katholisch Erzogene mag sich wie ein Pilger fühlen, der sein Kruzifix geschultert hatte und büßen will. Vielleicht hofft er auch, die Götter durch die freiwillig auf sich genommenen Prüfungen für sich zu gewinnen und umzustimmen, dass sie ihm die Geliebte zurückgeben. Das literarische Motiv der Läuterung drängt sich auf, das viele Varianten kennt, allen voran das Purgatorium in Dantes „Göttlicher Komödie“, das William Blake so eindringlich illustrierte. (7)
Der Schlager „Freu dich bloß nicht zu früh“ ist die deutsche Fassung des Andrew-Lloyd-Webber-Songs „Take that Look off your Face“ und schillert in seiner Mehrdeutigkeit wie alle Titel, die Christoph Böll seinen Filmen gab. Erneut sehen wir einem Künstler bei einer Art Selbstversuch am lebenden Körper zu. Seine Empfindungen bannt er in Bildern, seine Haltungen moduliert er in Selbstporträts, die er mit Wasserfarben auf Papier skizziert und abfilmt. Das eine Ich schlüpft in einer pornografisch anmutenden Szene in einen Frauenkörper, und während die Kamera dieses Bild zeigt, hören wir den John-Lennon-Song „Woman“. In der Verfremdung sucht Böll die Annäherung zu sich, indem er eine Porträtaufnahme von sich als durchsichtiges Wesen mit Tieraugen inszeniert. Die Innenwelt erscheint in Traumfetzen: Autoscheinwerfer schwimmen in unergründlicher Dunkelheit in einem nicht auslotbaren Raum. Wirklichkeitssplitter – wie die Hand eines alten Menschen – werden zwischen lange, abstrakt anmutende Einstellungen geschnitten. Forciert pathetisch fliegt ein Schwarm weißer Vögel zu feierlicher Barockmusik in einen Sonnenuntergang, aber wenn die Tonspur kratzt und eiert, und das Filmträgermaterial vermeintlich in Flammen aufgeht, bringt Böll uns Zuschauer augenzwinkernd wieder auf den Boden der Tatsachen und reflektiert sein Medium kritisch.
Eine ähnliche Funktion haben die sprachlichen Einlassungen des Künstlers. «Der schlimmste Feind der Poesie ist die Liebe zur Poesie.»(8), und so bedient er sich, scheint’s, naiv in die Welt der Wörter und formt seine Film- und Zwischentitel wie auch seine Gedichte aus einer Liebe, die aber gebrochen werden muss in Ironie: „Herztarzanackel“ eben!
(Der Text ist im Katalog zur Ausstellung “ Dioe Pforten der Wahrnehmung“, Osthaus-Museum Hagen 2015 erschienen.)
Anmerkungen:
1 Henri Meschonnic, «Des mots et des mondes», 1991
2 Bill Nichols „Image an Ideology, 1981
3 Meschonnic, ebd.
4 Roland Barthes, Camera Lucida. Reflections on Photography. New York: Noonday Press 1981; dt.: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt: Suhrkamp 1985.
5 Joseph Freiherr von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts
6 Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen, Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
7 Dante Alighieri. Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch, Fischer Verlag 2015
8 Henri Meschonnic, „Critique du rythme“ 1982