Barbara Frey inszeniert bei der Ruhrtriennale Arthur Schnitzlers Tragikomödie „Das weite Land“
Wie übersättigt muss eine Gesellschaft sein, um einen Krieg als „reinigendes Gewitter“ willkommen zu heißen? In Zeitlupe scheinen die Walzer-Seligen der Fin de siècle-Bälle zu erstarren, aber unterschwellig gärt die Lebens- und Liebesgier der gnädigen Herrschaften und findet in Amouren und Affären ihren Ausdruck. Dieses Szenarium beäugte Arthur Schnitzler in Wien aus nächster Nähe und seziert in seiner 1910 uraufgeführten Tragikomödie „Das weite Land“ lebende Seelen. Er hält der Gesellschaft seiner Zeit einen Spiegel vor und gleichzeitig stellt er Sinnfragen in den Raum, die auch heute wieder ihre Berechtigung haben.
Barbara Frey, die sich in der nächsten Saison als Intendantin der Ruhrtriennale verabschiedet, setzt aber ihren Kurs der Introspektion erodierender Seelenlandschaften fort, den sie im Vorjahr mit Edgar Allan Poes Drama „Der Fall des Hauses Usher“ begonnen hatte. Dessen düstere Atmosphäre schwappt gleichsam herüber ins erste Szenenbild der aktuellen Inszenierung: Vor einem halb transparenten dunklen Vorhang kauert eine Frau in einem von drei wuchtige Ledersesseln, während dahinter Leute in Trauerkleidung vorüberziehen. Die Regisseurin bedient sich quasi filmischer Mittel, um zwei Orte und zwei Ereignisse zusammenzufügen, eine verödete Villa und ein Begräbnis. Mit dem ältesten Theater-Requisit, dem Vorhang, erfindet Martin Zehetgruber augenzwinkernd durch geschickte Lichtsetzung charmante Bild-Effekte, die gegenwärtig gängige aufwändige Digiwalls in den Schatten stellen.
Zur Sektion freigegeben sind die Seelen des Fabrikanten Friedrich Hofreiter und seiner Gattin Genia, des Arztes Doktor Maurer, des Bankiers Natter und Adele, seiner Ehefrau und Ex-Geliebten von Hofreiter, von Frau Wahl und ihrer Tochter Erna, der Schauspielerin Anna Meinhold-Aigner und ihres Sohnes, des Marine-Fähnrichs Otto. Alle langweilen sich im unsinnigen Parcours von Gepflogenheiten und Verpflichtungen. Die einen verlieren sich in ihren inneren Landschaften und geben sich Wahnvorstellungen (oder Wahrheiten) von der Liebe hin wie ein Pianist, der aus verschmähter Liebe Selbstmord begeht, und ein Fähnrich, der für seine Leidenschaft im Duell mit seinem leben bezahlt. Die Anderen lassen sich treiben in heillosen Versuchen der Ablenkung.
Selbstbespiegelung wechselt mit kurzen Phasen der überraschenden Einsicht, die Michael Maertens als Fabrikant und Schürzenjäger vor sich hin denkend und plappernd, in unvergleichlicher Weise artikuliert, in abgebrochenen Sätzen, Wiederholungen, langen Pausen und komischen Betonungen. Katharina Lorenzens Genia als abgehärtete Betrogene, die selbst mit kurzen Liebschaften gegen ihre Kälte und lähmende Trostlosigkeit ankämpft, berührt in ihrem inneren Dilemma wie das gesamte Ensemble des Wiener Burgtheaters durch seine präzise Darstellung beeindruckt. Obendrein erlaubt sich die Regisseurin ein ironisches Aperçu zum gegenwärtigen Gender-Gezeter, indem sie Bibiana Beglau als Herrn und Frau Meinhold-Aigner besetzt.
Szenenwechsel. Die Dolomiten schimmern schemenhaft im Hintergrund und via Botenbericht erfahren wir von Gipfel-Glückseligkeit, die jedoch schon wieder verflogen ist.
Im Schlussbild öffnet sich dann der Vorhang und gibt den Blick frei auf das Dolomitenmassiv, in das sich eine riesige Tunnelbohrmaschine frisst, wie der Zweifel in die Seelen der Protagonisten.
Die Natur ist wunderbar mannigfaltig, gibt uns ein Exkurs über Fledermäuse zu verstehen, der Mensch aber ignoriert das und zerstört sie. Dass sie uns letztlich aber überlebt, macht eingangs des Abends ein anderer Exkurs über das Leben von Mikroben deutlich.
Wir Menschen seien komplizierte Wesen, die Ordnung schaffen wollten, wo doch von jeher Chaos herrsche, lässt Schnitzler uns noch wissen, als wüßten wir’s nicht längst.
Mit Granulatbröseln vom Bühnenboden an den Schuhsohlen und um ein großartiges Theatererlebnis reicher machen wir uns auf den Heimweg.