Chronistin des Ausnahmezustands

Psychogramme und Plastiken von Gisela Rietta Fritschi

Steinblumen
Steinblumen

„Nicht-narratives Wissen versucht das Universelle zu erhellen, indem es das Besondere transzendiert; narratives Wissen versucht, indem es sich die Auseinandersetzung Einzelner mit den Lebensumständen näher ansieht, die Universalien des Menschseins zu erhellen, indem es das Besondere enthüllt.“ Rita Charon

Geschichtenerzählen und medizinische Praxis gehören nicht erst seit Sigmund Freud und Josef Breuer zusammen. Viel hätte die Kunsttherapeutin und Künstlerin Gisela Rietta Fritschi aus ihrer jahrelangen Praxis mit Patienten zu erzählen – wäre da nicht das Gebot des Schweigens, dem sie sich in ihrem Beruf unterwarf. Auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben, ist ihr der geschulte Blick für Ausnahmesituationen geblieben. Sie erfasst im Zwischenmenschlichen mehr als manch anderer und lässt das Beobachtete, vermengt mit praktischen Erfahrungen, Wissen und Witz, in tragikomische Zeichnungen einfließen: spontan fixierte Szenen aus dem Alltag, deren Titel oft wie Diagnosen anmuten. Mögen diese Blätter, die am Computer entstehen, mitunter entlarvend sein, so geht es der Künstlerin aber nicht darum, mit den Zeigefinger auf all diese unglücklichen Typen zu zeigen. Vielmehr künden die Skizzen von einer großen ironischen Gelassenheit, frei nach Motto „Et jibt von allet“. Psychogramme nennt Fritschi diese Bilder, die aus ihrem Unterbewusstsein auftauchen. Erinnerungsfetzen, die ohne Umweg in den Zeichenvorgang einfließen. Nun, auf die „alten Tage“ wird sie in ihrer künstlerischen Arbeit zu einer Art Chronistin des Ausnahmezustands. Was da nicht alles hängen geblieben ist an Gefühlen und Eindrücken aus ihrer Arbeit mit Menschen, denen sich das Leben ver-rückt hatte! Überbleibsel von Begegnungen. Vieles von dem, was an den Rändern ihrer eigenen Seele zurück blieb, während ihre Patienten sich ihre Traumata von der Seele zeichneten. Diese Bilder zu entschlüsseln um zum Kern ihrer Störung vorzudringen und so Lebensfäden zu entwirren, war das Anliegen der Therapeutin. Auch die Künstlerin begreift sich als eine Art Medium, nur diesmal in eigener Sache. Blatt um Blatt verdeutlicht, dass diese Zeichnungen mitunter auch Selbstdiagnosen sind.
Viel sagende Blätter sind das: Da wird Geistesabwesenheit aufgespießt, die einen fatalen Fehler verursacht, der „volle Kopf“ und andere bedrohliche Zustände werden wörtlich genommen. Melancholie vor der unerbittlich vorbei rauschenden Zeit, gefasst in wenigen Zeichenlinien. Da umwabern Ängste einen kleinen Menschen wie eine Gaswolke, die ihn ersticken lässt, da löst sich ein anderer in seinem Bett in einem wässrigen Alptraum auf. Der „Konflikt“ drängt ein Paar auseinander wie ein weißer Geist. Auch für tabuisierte Themen wie Missbrauch und Exhibitionismus findet sie einfühlsame Bilder, die himmelhoch jauchzend zu Tode betrübte manisch-depressive Frau wird mit wenigen Strichen treffend charakterisiert. Das Blatt „Dressur“ konzentriert auf witzige Art, wie wir uns verbiegen lassen, um einer „Norm“ zu entsprechen und veranschaulicht so die Frage, die allen Zeichnungen Fritschis immanent ist: Was ist eigentlich normal?

Den unversehrten Kern des Menschen symbolisieren Gisela Rietta Fritschis „Steinblumen“. In Südfrankreich, wo es wie in der Eifel erkaltete Vulkane gibt, fand die Künstlerin Vulkanbomben, jene Magmatropfen, die dadurch entstehen, dass bei einem Vulkanausbruch abgekühlte Magmabrocken ins flüssige Kratermagma zurückfallen und erneut ausgespuckt werden. Welcher Zauber umgibt diese Vulkanbomben! Dem Mythos nach sind sie Glücksbringer des Gottes Vulkanus an die Menschen. Die Künstlerin bearbeitete ihre steinernen Fundstücke behutsam und kolorierte sie stellenweise, ehe sie ihnen metallene „Stengel“ gab.

One thought on “Chronistin des Ausnahmezustands

  1. Liebe Irmgard, nach dem ich bei Wikipedia über Ernst rescherschiert habe und dort Deine Beiträge sah kam, ich auf Deine Seite textcluster und fand mich dort wieder, danke das hat mich sehr gefreut. Bald seit ihr ja wieder da, dann sehen wir uns. Liebe Grüße auch an Alf, Gilla

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