„Kunst ist Verstörung. Und das ist wichtig, denn wo etwas gestört wird, kann etwas anderes dafür eintreten.“ (Manfred Schneckenburger)
Persönliche Betrachtung zur documenta 13
Naiv, wer ernsthaft Revolutionäres von der Kunst erwartet, in Zeiten, in denen alles erlaubt ist, und die Geschmeidigkeit konträrer Positionen immer erstaunlichere Angleichungen hervorbringt. Kunst als Wellness-Programm halten Kritiker der Leiterin und Kuratorin der 13. documenta, Carolyn Christov-Bakargiev (genannt CCB), vor und übersehen dabei die eigentliche Sensation und zugleich den Schlüssel für den Publikumserfolg der weltgrößten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, der mir in der inneren didaktischen Struktur der Präsentation zu liegen scheint: Die umsichtige Kunststrategin CCB trat, wohl wissend um die bedeutende Rolle der Medien, zum Auftakt der 100-Tage-Schau für ein Wahlrecht für Hunde und Erdbeeren ein. Sie gab die Clownin, weil ihr etwas am Herzen lag: Ihre Mittlerrolle zwischen zeitgenössischer Kunst und Betrachtern, die Kunst überwiegend für schwierig, ja unverständlich halten. CCB unterläuft diese Vorurteile durch eine großartige Methode, die man zusammenfassend „Wind“ nennen möchte: das Spiel mit der Sinnlichkeit der Kunst. Sie führt an zeitgenössische Kunst-Positionen heran, ohne den Anspruch, von vorn herein zu wissen, was Kunst ist. Ohne erhobenen Zeigefinger. Einen pädagogischen Trick, nennt dies Manfred Schneckenburger – selbst Leiter der documenta 6 und 8. Eine sachte, sympathische Führung der Besucher, die zum unschuldigen Blick ermuntert, ihm die eigenen Betrachtung nicht verstellt, sondern ihn zur Selbstermächtigung ermuntert. Im Gegenüber kommt unter den Kunstwerken und zwischen Betrachtern und Kunstwerken ein Dialog in Gang, der einen neuen Blick erzeugt.
Künstler befassen sich mit dem Sinn menschlicher Existenz und deren Bestimmtheiten und untersuchen die vielgestaltigen Spannungsfelder zwischen Zivilisation und Evolution, Natur und Kultur, Leben und Tod. Sie beziehen sich auf Vorbilder oder widersprechen ihnen. Sie verankern sich in der Vergangenheit oder reißen ihre Wurzeln sich aus und bringen ungesehene Bilder hervor, an denen aus Unverständnis Aggression sich entzündet. Encore, encore . . Endlose Geschichte der Pendelausschläge und nur ein Dutzend „Zeitreisende“, die diese Zyklen durchbrechen im Lauf der Jahrhunderte.
CCB ruft in Kassel in ihrer opulenten Schau Sammler von Formen und leidenschaftliche Liebhaber von Dingen, Archäologen der Schönheit, Detektive der Zeit, Katalogisierer, Sektierer und Ver-rückte als alleraufmerksamste Zeugen und Beobachter menschlichen Daseins auf. Auch des winzigsten Lebendigen. Was ist erfülltes menschliches Sein, was ist beseelt? Ein Jean-Henri Fabre etwa misst Wespen in seinen Erinnerungen eines Insektenforschers Charaktereigenschaften zu. Im Fridericianeum liegt ein mumifiziertes Tsetse-Fliegenpärchen erhöht auf einem Sockel wie ein Hochkaräter. Und der verantwortliche Künstler Pratchaya Pinthos lässt den Besucher wissen, dass eines der beiden Tiere sterilisiert wurde. Er hat sich mit der in weiten Teilen Afrikas verbreiteten Schlafkrankheit beschäftigt und entwickelt nun billige Fallen. Der Künstler als der begnadete hellsichtige Mensch, der seinen Mitmenschen hilft. Wie auch immer . . Ein vieldeutiges Gleichnis.
CCB greift die Frage der Romantiker nach dem Geheimnis, das Leben im Innersten zusammenhält, auf und kreist es ein. Hier seien einige Anhaltspunkte der Spurenleserin vorgelegt.
Indiz Nummero eins: Der Korbiniansapfel. So ein Wunderding, das entsteht, wenn ein Mensch ganz bei sich und einem Gegenstand hingegeben, schafft. Den unbeugsamen Pfarrer Korbinian Aigner brachte sein Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime ins Konzentrationslager Dachau, wo er vier neue Apfelsorten züchtete und sie KZ 1- 4 nannte. Postkartengroße Aquarelle von Äpfeln und Birnen hat Aigner über 50 Jahre gemalt, und nun füllen sie, Rahmen an Rahmen – aus der Distanz betrachtet wie ein Muster – über Eck zwei Wände in einem Raum der, brummend klimatisiert wie ein Kühlraum, zur zweiten Hälfte gefüllt ist mit den „Schlacken“ einer anderen unermüdlichen Suche nach „Wahrheit“. Indiz Nummero zwei: Mark Lombardis Zettelkästen, Karteikarten und drei spinnennetzartige wandfüllende Diagramme von Korruption und Verrat sind Zeugnisse auch von Unermüdlichkeit und Vergeblichkeit.
So führt CCB behutsam an zeitgenössische Kunst-Positionen heran, ohne den Anspruch, von vorn herein zu wissen, was Kunst ist. Ohne erhobenen Zeigefinger.
Politische Kunst gibt es in Kassel, aber sie macht keine Politik – weil das ja Agitprop wäre – sondern sie handelt von Politik, indem sie uns etwas vorzeigt. Krieg etwa auf Goshka Macugas Wandteppichen, Indiz Nummero drei. Das wie eine große Schwarzweiß-Fotografie anmutende wandfüllende Stück setzt sich aus Motiven zusammen, die aus verschiedenen Zeiten und Weltgegenden stammen und beeindruckt dadurch, dass diese Halbwahrheit dennoch eine universelle Wahrheit enthält: die fortwährende Tragödie von Krieg, Opfer und Leid. Ein zerstörtes Schloss, ausgezehrte, notdürftig bekleidete Gestalten, liegen gebliebene Leichen, ein Schlangenbeschwörer. Das für die Rotunde entworfene, konvexe Bild suggeriert zudem, dass wir Betrachter uns gespiegelt sehen in jenen Elendsgestalten. Einen Funken schlägt auch das eigentlich wertlose Metallklümpchen, das aus dem Museum Beirut stammt, wenn der Betrachter seine Geschichte erfährt: Bei einem Angriff verschmolzen zwei uralte Kultfiguren. Brutaler lässt sich der Unterschied zwischen geldwerter Kunst und Kunstwerten, die dem Kunstmarkt enthoben sind, nicht darstellen. Die Aura des Gegenstands weht den Betrachter auf sinnlich-emotionale Art an und provoziert das Weiterdenken.
Indiz Nummero vier: Kader Attilas Installation „The People from the Occident to Extra-Occidental Cultures“. In beeindruckender Weise gelingt dem Künstler eine dialektische Vermittlung von Kunst und Wissenschaft. Einander gegenüber gestellte „reparierte“ afrikanische Objekte und lebensgroße Skulpturen gesichtsverwundeter Soldaten des Ersten Weltkriegs werfen Fragen nach unterschiedlichen ethischen und ästhetischen Vorstellungen der „Reparatur“ auf. Zerstörte afrikanische Objekte wurden einst mit Spiegelsplittern, Filz und Metallknöpfen geflickt – fremden von den Kolonialmächten ins Land gebrachten Materialien – und zeigen uns heute die „Narbe“ als Impuls ästhetischer Weiterentwicklung.
Indiz Numero fünf: Die Installation „Refusal of the Time“ von William Kentridge. Riesenhaft vergrößerte projizierte Metronome geben den Takt und dirigieren das Spektakel aus Selbstzitaten ( Zylindermegafone, Räder, pneumatische Uhren). Diese ungemein reizvolle Raum-Collage aus bewegten Schattenbildern, Projektionen und Videoclips, Musik und Geräuschen führt Verfahren zur Normierung der Zeit vor und thematisiert ein weiteres Mal die Moderne. Von der Industrialisierung, in der die Vernetzung standardisierter Uhren der modernen Gesellschaft sinnfällig ihren Rahmen gab, bis hin zu Beerdigungsprozessionen und absurden Tänzen von Menschen und Dingen.
Indiz Numero sechs: Wissen und Einfühlung ermöglichen CCB eine außerordentlich beglückende Kunstpräsentation. Besonders deutlich wird dies in der „Schatz- und Wunderkammer“, in der auf engstem Raum künstlerische und archäologische Kostbarkeiten sich drängen. Blitzartig erleuchten Korrespondenzen und Kontraste zwischen Kunstwerken und realen Objekten Zusammenhänge. Hier Ikonen der Moderne wie Giorgio Morandis Flaschen-Stillleben, dort eine Reihe uralter baktrischer Prinzessinnen. In der Zusammenschau scheint Morandis Malerei die Miniatur-Gottheiten ihrer Zeit zu entreißen und mit Modernität aufzuladen. Gleichzeitig verwandeln sich die vom Künstler selbst bemalten Glasflaschen, die er als Vorlagen nahm, zu Fundstücken unbestimmter Herkunft.
Adrián Villar Rojas spielt mit den Dimensionen von Natur- und Menschengeschichte, indem er zum einen Hinterlassenschaften einer einstigen Zivilisation von Riesen inszeniert. Sein Werkstoff ist Zement, stumpfer, grauer Zement. Seine Skulpturen und Objekte mögen aufgebrauchte, untaugliche Reste einer versunkenen Welt sein. Ihre brüchige, zm Teil aufgerissene Oberfläche suggeriert Verfall. Sein Arsenal der Glocken fügt er harmonisch in vorhandene Restarchitektur ein. In dem von ihm auserwählten Ort, einem alten aufgelassenen Weinberg, inszeniert der Künstler mythisch anmutende Bilder der menschlichen Existenz zwischen Liebe und Tod. Ein junges Paar in einem Nachen, eine ausgezehrte Frau, die ein Ferkel stillt . . Archäologische und mythologische Elemente verschränken sich spielerisch und berühren – Indiz Numero sieben – im Betrachter selbst alte ungewusste Seelenregionen.
In der historischen Parkanlage der Auenlandschaft macht sich ein Parcours spektakulärer, bunter, witziger Kunstobjekte breit und lädt zum lustvollen Flanieren von einer Idee zur anderen.
Viele Künstler, die dieser Tage auf der documenta ihre Arbeiten vorstellen, sind in ihren Ländern durchaus schon Größen und auch international bekannt, hierzulande aber neu. Die alten Kolonialstaaten, inzwischen Nationalstaaten, sind gut vertreten. Da ihre Künstler auf dem internationalen Kunstmarkt aber noch Unbekannte sind, kann diese documenta 13 die rein konsumistische Kunstbetrachtung umgehen. Ob die Kunstwerke nun in die Gesellschaft zurückwirken, ist nicht mehr Sache dieser Kunstschau. Diese Wirkung fängt an, wenn in Kassel die Pforten schließen.