Gute Bilder sind Antworten

„Sehenden Auges“ – Der Regisseur Christoph Böll  würdigt den legendären Kunsthistoriker Max Imdahl in seinem aktuellen Dokumentarfilm

„Wenn ein Schildchen da ist, handelt es sich um Kunst, wenn kein Schildchen da ist, kann es sich möglicherweise  auch um einen Abstellraum handeln.  (…) Die Frage, ob etwas Kunst ist oder nicht, ist prinzipiell total sekundär. Primär ist die Frage, ob es mich betrifft oder nicht betrifft.“ So argumentierte der Kunsthistoriker Max Imdahl in einer WDR-Gesprächsrunde, und den Einwurf seines Gegenübers, dass er sich damit in die Beliebigkeits-Sackgasse begebe, ließ er nicht gelten: Freilich könne vieles betroffen machen, Kunst aber mache in besonderer Weise betroffen, weil das Kunstwerk keine flüchtige sondern eine dauernde Existenz habe und seine Identität bewahre.

Diese „Substanz“ von Kunst versuchte Imdahl zeitlebens freizulegen und war ihr wohl immer besonders nahe, weil er  selbst über das besondere Sensorium des Künstlers verfügte, das ihn in jüngeren Jahren schon zum Gewinner des Blevin-Davis-Preises gemacht hatte. Nachdem er sich seit Mitte der 1960er Jahre ganz der Lehre und Forschung verschrieben hatte, führte er die Betrachtung zeitgenössischer Kunst in den Lehrekanon ein und entwickelte die Ikonik  als intensive Bildanalyse, in der es gilt, genau hinzuschauen und seinen eigenen Augen zu trauen.  Beschreibend, deutend, sich einfühlend, näherte er sich behutsam dem wahren Kern, wohl wissend, dass selbst genaueste Sprache  und wohlüberlegte Begriffe diesen Inhalt niemals ganz erfassen konnten. In dieser unüberbrückbaren Differenz wurde für ihn der genuine  Bild-Sinn erfahrbar. Damit bezog Max Imdahl als vergleichsweise junger Professor im bundesdeutschen kunsthistorischen Lehrbetrieb eine Position, die der Mehrheit seiner Kollegen gar nicht gefiel.

Während die Ikonik heutzutage in den meisten kunstwissenschaftlichen Seminaren ganz selbstverständlich als Methode der Kunstbetrachtung angewandt wird, kennen die wenigsten jüngeren Semester den Namen ihres Schöpfers Max Imdahl. Christoph Böll will den galoppierenden Gedächntisverlust  nun mit seinem Filmprojekt „Sehenden Auges“ aufhalten – wenigstens für die Dauer von 112 Minuten. Der Regisseur umkreist Imdahl, den Avantgardisten unter den Kunsthistorikern seiner Generation, in immer enger werdenden Bewegungen und versucht so, in der Sprache seines filmischen Mediums, Imdahls Begriff der „Substanz“ eines Kunstwerks so nahe wie möglich zu kommen. Eine Serie von Interviews zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Film, der sich nicht in eine Schublade stecken lässt. weil er dokumentarisch ist  und gleichzeitig überaus persönlich, analytisch und emotional. Einstige Kollegen, Assistenten und Studenten geben Zeugnis von dem besonderen Menschen Max Imdahl.  Die Liste liest sich wie ein Who is Who der NRW-Museumslandschaft und der aktuellen Kunstwissenschaft schlechthin.

Gute Bilder sind Antworten, und  auch bei diesem Film ist der Betrachter aufgefordert, in jener  Imdahlschen Manier der Bildbetrachtung die Fragen zu ermitteln, auf die Bölls Filmsequenzen antworten. Im Mittelpunkt, so lassen betörend schöne Überblendungen. Mehrfachbelichtungen und Spiegelungen vermuten,  stellt der Regisseur die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Natur. Aus einer Baumkrone, deren brokatenes Laub im Wind  raschelt, tritt eine Buddha-Gestalt hervor und verschwindet in einer abblätternden Mauer. Baumgruppen, eine Wiese, ein Weg, der  Gebäudekubus der „Situation Kunst“ in Park von Bochum-Weitmar ziehen vorüber. Zwischen der Kunst in diesem besonderen Museum und der Musik schlagen Zwischenspiele Brücken. Dem Zuschauer werden Pausen zugemutet in der zentralen Serie von Interviews mit einstigen Weggefährten Imdahls. Er hört Flöten- und Harfenimprovisationen und sieht einer Tänzerin zu, wie sie spontan auf ein Kunstwerk reagiert.  Der Zuschauer soll sich auf Inhalte einlassen, die außerhalb seiner eigenen Lebenserfahrungen einen Sinn machen, und dieser Anspruch erinnert wiederum an den Aufstand Bochumer Bürger, die mit der rostenden Plastik „Terminal“ von Richard Serra nichts anzufangen wussten.

Im Sommer 1980 gab Max Imdahls Einwurf vermutlich den Ausschlag dafür, dass die Ratsmehrheit sich für den Verbleib dieses zeitgenössische Kunstwerks aussprach. Bochum war Imdahls Stadt, seit er 1965 Münster den Rücken zugewandt hatte, um einem Ruf an die neu gegründete Reformuniversität zu folgen. Er war in dieser Stadt daheim, und so verwundert es nicht, dass Böll dem Terminal-Konflikt eine lange Passage widmet, die auch vom großen Missverständnis zwischen der schweigenden Bevölkerungsmehrheit  und zeitgenössischer Kunst handelt. Carmen Thomas stellt Zuhörern ihres Ü-Wagens am 27. Juli 1980 die Frage: „Gefällt es Ihnen?“ Die Antworten: „Ein Haufen Schrott“, „Ich weiß nich, wat dat sein soll.“ Dr. Richard Erny, der damalige Bochumer Kulturdezernenten, gibt aus dem Off zu bedenken: „Zeitgenössische, fortschrittliche Kunst, wurde selten von den Zeitgenossen für schön gehalten.“

Max Imdahl hat es als erster gewagt,  die zeitgenössische Kunst in den klassischen Kanon der Kunstgeschichte einzuführen und gegen den anhaltenden, teils erbitterten Widerstand vor allem älterer Professorenkollegen durchzusetzen. Während die klassische Kunstgeschichte über  die Entstehungsgeschichte der Bilder informiert, auch über Intentionen, Mentalitäten und Weltanschauungen Aufschluss gibt,  erklärt die Ikonik wozu Bilder da sind. Imdahl wollte dem jeweiligen Bild gerecht werden, ihn trieb die Neugier, herauszufinden, was jeweils möglich war. In dieser Haltung  strebte er die größtmögliche Nähe zur unmittelbar erfahrbaren Substanz eines Bildes an und demonstrierte, dass auch Ungebildete diesen Prozess der Bildbetrachtung nachzuvollziehen vermögen, wenn sie sich auf ein Bild einlassen. Und er betonte immer, dass Ikonik keine elitäre Kunsterfahrung  sei. So räumt Böll  der  Gesprächsreihe „Arbeiter diskutieren moderne Kunst“ in den Bayerwerken Leverkusen breiten Raum ein. Dr. Gundolf Winter (Universität Siegen), erinnert an die denkwürdige Episode, die den Imdahl-Mythos mitbegründete: „Es gelang Imdahl, die Arbeiter zum Reden zu bringen, damit hatte er gewonnen.“ „Er konnte sie davon überzeugen, dass das, was sie sahen, etwas Wichtiges war“, ergänzt

Professor Gottfried Böhm (Universität Basel). „Sie erfuhren durch ihn, dass in Bildern, die sie früher ignorierten oder gar ablehnten, Dinge stecken, die für Arbeiter bedenkenswert sind.“ Zwei Bayer-Betriebsräte schildern ihre Eindrücke. Karl-Otto Czikowsky zeigt sich noch heute angetan von Imdahls legerer Art: „Er sprach unsere Sprache und hatte so eine Begabung, mit Menschen umzugehen.“ „Er hat die Leute reden lassen und führte abschließend die Fäden wieder zusammen und zurück auf den Kern“, unterstreicht Rolf Nietzard. Dr. Jürgen Stöhr – einst Student bei Imdahl, heute Professor an der Kunstakademie Münster – gibt seiner Faszination Ausdruck: „Wo andere Lehrer einen Anschauungsprozess abbrachen, ging Imdahl weiter, und ich wusste nach jeder Lektion, dass er mir etwas gezeigt hatte, das ich vorher noch nicht wusste.“

Mit Sozialgeschichte oder Historisierung der Kunst hatte Imdahl nichts am Hut“, wirft Professor Herbert Moderings (Universität Bochum) ein.  Und Professor Hubertus Kohle (Universität München) erinnert an Imdahls rationalen Ansatz:s „Das Transzendente in der Kunst können wir nur erfassen, wenn wir es in die Rationalisierung der Sprache fassen, wohl wissend, dass es nicht rationalisierbar ist. Sprache kann nur im Scheitern das Phänomen beschreiben.“  Trotz dieses Paradoxes habe Imdahl immer an seinem Vokabular gearbeitet, um die Spezifität jedes Bildes besser beschreiben zu können. In seinem Text über Giottos Arena-Fresken verdichtet sich seine Ikonik-Theorie so beeindruckend, das Dr. Tayfun Belgin – einst sein Schüler, heute Direktor des Osthaus-Museums Hagen –  von absoluter Perfektion spricht: „Wie ein Film, aus dem man keine einzige Sequenz herausnehmen kann.“

 

Supplement

Böll und Imdahl

Christoph Böll studierte seit Anfang der 1970er Jahre an der Ruhruniversität Bochum und lernte Max Imdahl über dessen Kinder kennen. Eines Tages zeigte ihm Imdahl, der ja selbst erfolgreicher Maler gewesen war und die Kunstproduktion für die Kunstvermittlung an den Nagel gehängt hatte, einige seiner Bilder. „Er schenkte uns Wein ein, wir stießen an,  und er sagte nur  ‚Max’. Fortan waren wir per Du,“ erinnert sich Böll. „Er verfolgte meinen Werdegang als Filmemacher sehr aufmerksam und gratulierte mir zum Großen Preis für meinen Film „Der Sprinter“. Böll freut diese Lob noch heute, weiß er doch von Imdahls Witwe Ebba:  „Für Max zählt nur 1a“. „Dieser Anspruch bestimmte auch diesen Film, ich hatte das Bedürfnis, ihn immer noch runder machen zu müssen“, so Böll. Aus Respekt und Integrität gegenüber Imdahl, habe man den Familienmenschen und Privatmann Imdahl herausgelassen.

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