Ganz aufgedreht kam ich aus Ulrike Ottingers „Calligrammes“, in der Laune, sofort dorthin aufzubrechen, von wo die Künstlerin berichtet hatte: Ins Zentrum der Imagination, wo immer Gewusstes, Vertrautestes und Fremdes sich begegnen. Zu dem wahrhaften Gefühl, aus dem der spontane Ausdruck quillt. Ganz so, wie Guillaume Apollinaire es gefordert hatte. Seine Gedichtesammlung Calligrammes hat er zwischen 1913 und 1916 geschrieben, und ihr den Untertitel „Gedichte von Frieden und Krieg“ gegeben. Sie mögen wiederum Fritz Picard 1951 veranlasst haben, die Ziffern einer Wanduhr an der Fassade seines Buchantiquariats an der Rue de Dragon durch die zwölf Buchstaben des Wortes Calligrammes zu ersetzen. Und nun also spinnt Ulrike Ottinger diesen Faden fort im Titel ihres neuen Films, der von ihren Pariser Lehrjahren eben dort erzählt und zahlreiche emigrierte Dichter und Künstler aufruft, die aus Nazi-Deutschland sich ins Nachbarland gerettet hatten. Wir sehen wie sich graphische Techniken erlernt, und sie zeigt uns die Gemälde, die ihr damals durchs Hirn geisterten, weil sie in Ausstellungen präsentiert wurden. Wieviele Video- und Bildarchive Ottinger wohl durchforstet hat auf der Suche nach den Bildern, die ihrer persönlichen Erinnerung nahe kamen oder sie gar trafen? Motive, die auszudrücken vermochten, was ihr selbst vor fast sechzig Jahren zu Herzen ging und sie fliegen ließ, heute gefiltert durch die Einsichten des Alters. Ottinger hat sich einmal vor einem Marx Brothers-Plakat ablichten lassen, und auf einem weiteren Foto ist sie zu erkennen. Ansonsten hat sie mit allen Fasern gelebt in jener Zeit und es kam ihr wohl nicht in den Sinn, zu fotografieren. Verständlich ist der Regisseurin Entscheidung, ihre Geschichte mit ihrer eigenen Stimme zu erzählen, aber leider hören wir eine Art Vortrag, der den Charme des besonderen Bildmaterials merklich dämpft. Zum Schluss hin gibt sie ihrem enzyklopädischen Anspruch nach und gerät ins Dozieren. Das aber ist angesichts der überbordenden Fülle ihres Films zu vernachlässigen.