«Yiddish Talkies» restauriert

Die jiddischsprachige Kinokultur
Von Sibilla Bondolfi (NZZ,
Mit dem Holocaust und der Assimilierung jiddischsprachiger Juden fand das goldene Zeitalter der «Yiddish Talkies» ein Ende. Vergessen ist diese Filmkultur jedoch noch lange nicht.
Der erste internationale Erfolg des jiddischen Kinos: Molly Picon in «Jidl mit der Fiedel» (1936).

Molly Picon in „Yiddl with a Fiedel“ (1936), dem ersten internationalen Kinoerfolg.

Der junge, hinkende Fischke und die sehbehinderte, bildhübsche Hodel leben in einem Schtetl im 19. Jahrhundert und sind verzweifelt: Sie sind zwar (bald mehr, bald weniger) ineinander verliebt, können jedoch nicht heiraten, da ihnen das Geld für eine Hochzeit fehlt. Als Hodel mit ihren Freundinnen am Sabbat im Fluss badet, bricht im Schtetl die Cholera aus. Die Bewohner sind der Überzeugung, die Krankheit sei eine Strafe Gottes für das Bad der jungen Mädchen am Ruhe- und Feiertag. Die tragische Choleraepidemie, deren Ursache tatsächlich im verschmutzten Flusswasser liegt, verhilft dem sich liebenden jungen Paar unverhofft zur Ehe: In dem Glauben, die Epidemie mit einem «Cholera-Paar» bannen zu können, verheiraten die Schtetl-Bewohner Fischke und Hodel des Nachts auf dem Friedhof.

Nichtreligiöse Kultur

Der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in den USA gedrehte Film «Fischke der Lahme» basiert auf dem gleichnamigen jiddischen Roman von Mendele Moicher Sforim alias Scholem Jankew Abramowitsch aus dem Jahr 1869. In dem sozial- und religionskritischen Werk zeichnet der Autor ein satirisches Bild des osteuropäischen Schtetls, das im Film ebenfalls wiedergegeben wurde – obgleich das so beschriebene Schtetl zur Zeit der Dreharbeiten bereits nicht mehr existierte. Dennoch ist der Film ein wichtiges historisches Zeugnis: «Solche Filme sind die einzige Möglichkeit, die lebendige jiddische Sprache der damaligen nichtreligiösen jiddischen Kultur zu erfahren», sagt die Filmhistorikerin Mariann Lewinsky Sträuli. «Heute reden nur noch Leute Jiddisch, die nicht ins Kino gehen.»

Der Film «Fischke der Lahme» wurde unlängst im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Versteht mich noch jemand?» im Neuen Kino Basel gezeigt. Die exzellente Bild- und Tonqualität ist der professionellen Restaurierung durch das National Center for Jewish Film in Boston (NCJF) zu verdanken. Das NCJF sammelt, restauriert und konserviert altes Filmmaterial mit Bezug zum Judentum. Bis heute hat es 44 jiddischsprachige Filme gerettet. Das Neue Kino Basel hat vier jiddischsprachige Spielfilme aus verschiedenen Epochen ausgewählt und vom NCJF zur Verfügung gestellt bekommen. Zusammen mit zwei modernen jiddischen Kurzfilmen und umrahmt von Einführungsreferaten sind sie der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Der «jiddische Monat» des Neuen Kinos Basel war ein Erfolg; für Oktober ist daher bereits eine Vorführung der auch auf Jiddisch arbeitenden israelischen Video- und Performancetruppe Sala Manca geplant, wie Christian Hörack vom Neuen Kino Basel mitteilt.

Der jiddische Film entwickelte sich aus dem jiddischen Theater in den USA und in Polen, den beiden Ländern mit der damals grössten jiddischsprachigen Bevölkerung. In den 1920er bis 1950er Jahren – dem «goldenen Zeitalter» des jiddischen Kinos – entstanden dort nahezu 200 jiddischsprachige Filme. In Polen besuchten nicht bloss jüdische Kinogänger die Filmvorführungen, sondern dank Untertitelung auch polnischsprachige Zuschauer. Es wäre zu teuer gewesen, bloss für das jiddischsprachige Publikum zu produzieren. Häufig handelte es sich auch um amerikanisch-polnische Koproduktionen. Der im Jahr 1936 von dem amerikanischen Produzenten Joseph Green mit Stars der amerikanischen Bühne und Schauspielern des polnisch-jiddischen Theaters in Polen gedrehte «Jidl mit der Fiedel» war der erste internationale Erfolg des jiddischen Kinos und wurde sogar in Australien und Südafrika vorgeführt.

Der Angriff der deutschen Wehrmacht auf Polen und der Holocaust setzten dem jüdischen Filmschaffen in Europa ein jähes Ende. Obwohl von den rund dreieinhalb Millionen polnischen Juden bloss ein Fünftel den Holocaust überlebte, waren die ersten Filmproduktionen im Nachkriegspolen bemerkenswerterweise jiddischsprachig: Es handelt sich um die im Jahr 1946 gedrehten kurzen Dokumentarfilme über das jüdische Leben nach dem Krieg, welche als Wochenschau in den Kinos gezeigt wurden. Die letzte jiddischsprachige Filmproduktion in Osteuropa war die polnische Dokufiktion «Unsere Kinder» von 1948, in welcher der Holocaust verarbeitet wurde. Das sowjetische Regime erschwerte fortan das jüdische Filmschaffen, so dass die jiddische Filmkultur in Polen endgültig verschwand. Auch die Assimilierung jiddischsprachiger Juden in Westeuropa und den USA führte dazu, dass die Sprache in der Filmkultur in Vergessenheit geriet.

Nach einer zwanzigjährigen «Pause» tauchte Jiddisch seit den 1970er Jahren wieder vereinzelt in kleinen Produktionen und in Dokumentar- und Experimentalfilmen auf. Allerdings waren die Mitwirkenden im Unterschied zu den goldenen Zeiten des jiddischen Films in den seltensten Fällen jiddischer Muttersprache. Heute werden «Yiddish Talkies» hauptsächlich noch in chassidischen Kreisen in den USA und Israel produziert. Diese aus dem osteuropäischen, orthodoxen Judentum stammenden Gruppierungen sprechen meist noch ostjiddische Dialekte als Erst- oder Zweitsprache.

Neues Interesse in Hollywood

Auch Hollywood hat die Sprache für sich wiederentdeckt: Mehrere zeitgenössische Filme zeigen jiddische Dialogszenen, so beispielsweise «A Serious Man» (2009) von den Coen-Brüdern. Dieser Film beginnt mit einer mehrminütigen Szene in einem osteuropäischen Schtetl, in welcher ausschliesslich Jiddisch gesprochen wird. Und nun wird auch die schweizerische Produktionsfirma Turnus Film AG mit der Verfilmung des Romans «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» bald einen Film in die Kinos bringen, in welchem teilweise Jiddisch gesprochen wird – so wie in der Romanvorlage von Thomas Meyer. Der Autor selbst schreibt das Drehbuch und wird nach eigenen Angaben der jiddischen Sprache eine zentrale Rolle einräumen. Man darf gespannt sein.

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