Rolf Dieter Brinkmanns Audio-Nachlass
„Psssssssssst, leise“. Er kündigt ein Gedicht an – Pause, dann ohrenbetäubend das eine Wort: „Scheiße!“ Hinausgebrüllt wie von einem in die Enge getriebene Tier. Rolf Dieter Brinkmann „hat der Wolf gerissen, das Leben nämlich“. Er ist verletzt und voller Wut über die Zustände im Land. 1973, zwei Jahre bevor er in London von einem Auto überfahren wird, schreibt der Kult-Autor nach knapp zehn Jahren unbändigen Schaffens kaum noch. Aber gänzlich verstummt ist er jedoch nicht. Von Oktober bis Dezember fzeichnet Brinkmann ür die WDR-Sendereihe „Autorenalltag“ 29 Magnetbandspulen seines Da-seins auf. Daraus entsteht eine Sendung von 48 Minuten und 44 Sekunden. Den großen „Rest“ macht jetzt eine fünfteilige CD-Edition zugänglich, die gerade zum Hörbuch des Jahres 2006 gekürt wurde. Die Begründung: Der Audio-Nachlass sei das Gründungsmanifest der deutschen Pop-Bewegung. Dem Zuhörer eröffnen die unbearbeiteten Tondokumente den Resonanzraum eines multimedialen Chronisten, der seine Antennen in alle Richtungen ausgefahren hat. Schonungslos analysiert er seine nähere Umgebung und das große Ganze. Aus dem Bauch heraus schwappen seine Beschimpfungen und Anklagen, im Rhythmus seiner Schritte purzeln ihm Worte aus dem Mund, oder er hebt zu pointierten Kurz-Analysen an. Gleichzeitig ist ein Autor zu erleben, dessen Wörterketten sich unversehens zu Gedichten formen. Einer, der sich der Wirklichkeit kaum noch erwehren kann. Brinkmanns Stimme ist dunkel, mit norddeutschem Timbre. Hin und wieder scheint er leicht zu lispeln. Spontan assoziiert er vor dem Hintergrund-Rumoren der Großstadt Köln, liest eigene Texte oder keucht uns beim Treppensteigen etwas vor. Brinkmann weist sich als Angehörigen der 1940er Generation aus. Fertiggemacht durch Sätze und Worte, fühlt er sich, gebeutelt von Erinnerungen an die Schrecken des Krieges, denen die Schrecken des Arbeitsstresses folgten, alles gut und genau zu machen. Er lässt uns wissen, dass er die Musik von „Softmachine“ liebt und Giordano Bruno, Daniel Charms, William S. Burroughs gern liest. Kein Buch aber ist ihm ein heiliges. Die Tonband-Aufnahmen folgen dem Vorbild der Bild-Text-Collagen, die der Autor seit 1962 in einer experimentellen Mischung aus Instamatic-Fotografien und Notizen zusammengefügt hat. Dabei leugnet er nie den Einfluss der amerikanischen Beatnic-Poeten, die er in den Anthologien „Acid“ und Silverscreen“ ins Deutsche übersetzt und so hierzulande bekannt gemacht hat, und stilisiert sich unfreiwillig zu einem Pop-Orpheus, wenn er sagt „Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, auf zwei Fingern“ („Westwärts 1&2“) mehr
(Wörter Sex Schnitt., intermedium rec. 023, 5 CD, ISBN 9-34847-47-1)