Mitreissend

Er ging, etwa wenn er einen Vortrag hielt, gerne vor seinen Zuhörern auf und ab – ein bisschen wie ein Feldherr, der vor der Schlacht seinen Mannen Mut einflösst. Und er brauchte, wenn er sprach, seine Hände, ja seinen ganzen Körper, um dem Gesagten die nötige Plastizität, die gewünschte Kraft zu geben. Auch wenn ich nicht immer alles verstand, was er sagte, so begriff ich doch stets, dass mich da einer mitreissen, mitnehmen wollte – nicht in einen Kampf, aber auf eine Reise, auf eine Expedition in das Reich der Kunst, das für ihn viel mehr war als eine hübsche Nebensächlichkeit. Kunst war für Jean-Christophe Ammann fast gleichbedeutend mit Leben – wenn er über Werke sprach, dann kam es einem oft vor, als denke er über persönliche Freunde nach, über Wesen mit eigenem Gemüt. Am 13. September ist Ammann, wie erst jetzt bekannt wurde, nach langer Krankheit im Alter von 76 Jahren in Frankfurt gestorben.

Kunst der Poesie

Mit Ammann verliert die Gegenwartskunst einen ihrer schillerndsten Anwälte – wobei er nicht nur Verteidiger war, sondern ebenso Ankläger, der scharfe Worte für Werke fand, an die er nicht glauben konnte. Umgekehrt setzte er sich auch oft für künstlerische Positionen ein, die ganz und gar nicht dem Mainstream entsprachen – was ihm gelegentlich den Ruf eintrug, einen etwas verschrobenen Geschmack zu haben. Doch wenn sich Ammann für etwas nicht interessierte, dann für Fragen des Geschmacks – denn Kunst war für ihn viel mehr, sie war Poesie, wie er auch vor fünf Jahren in ein Interview mit der NZZ betonte: «Ich will Kunst als Poesie. Poesie! Kunst ist Poesie! Menschen brauchen Poesie. Das war von Anfang an so. Belehren tut die Theologie oder die Philosophie oder die Ethik. Aber nicht die Kunst. Kunst war immer Poesie. Und die besten Künstler waren immer Poeten – alle anderen waren Handwerker.»

Jean Christophe Ammann kam 1939 in Berlin zur Welt und wuchs in Freiburg i. Ü. auf, wo er dann auch Kunstgeschichte studierte. 1967/68 war er Mitarbeiter von Harald Szeemann an der Kunsthalle Bern, danach dirigierte er ein Jahrzehnt lang das Kunstmuseum Luzern. 1972 war er als Co-Kurator von Szeemann bei der Konzeption der legendären «documenta 5» in Kassel mit dabei. Ab 1978 leitete er dann die Kunsthalle Basel – bis es ihn 1989 nach Frankfurt am Main zog, wo er zwei Jahre später als Direktor das neue Museum für Moderne Kunst eröffnete und zahlreiche seiner berühmten «Szenenwechsel» kuratierte. Seit zwanzig Jahren amtete er ausserdem als Professor an der Universität Frankfurt.

Als ich Jean-Christophe Ammann vor fünf Jahren in seiner Frankfurter Wohnung besuchte, kam er mir – umringt von zahllosen Büchern, periodisch Pfeifenrauch ausstossend – fast selbst wie ein Kunstwerk vor. Manches von dem, was er mir sagte, war klar wie Kristall – anderes schien mir geheimnisvoll, mysteriös. Doch er nahm es nicht einfach hin, wenn ich das eine oder andere nicht begriff – er versuchte es mir mit allen Mitteln zu erklären, packte mich mitunter gar an der Schulter, wies mir Positionen zu im Raum, Rollen in einem Theaterspiel, mit dem er mir seine Gedanken verdeutlichen wollte. Und wieder begriff ich, dass es ihm um sehr viel ging – denn «Kunst ist etwas, das man nie aufheben kann. Sie ist mit der Menschwerdung identisch. [. . .] Kunst ist eine absolute Notwendigkeit.»

Von Jean-Christophe Ammann sind zahlreiche Bücher erschienen – zuletzt im Jahr 2014 «Kunst? Ja, Kunst – die Sehnsucht der Bilder» im Frankfurter Westend-Verlag.

(Samuel Herzog, 18.9.2015)

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