Weltausstellungen im Spannungsfeld von Mensch und Fortschritt
Läuft die Zeit im Kreis, auf das Jüngste Gericht zu oder bewegt sie sich geradeaus? Die Vorstellung eines linearen Geschichtsverlaufs setzte sich in Europa seit der Französischer Revolution und Aufklärung durch und mit ihr jenes Fortschrittsdenken, das die Entwicklung der westlichen Moderne entscheidend prägte.
Das Wahrzeichen der Expo 2010 in Shanghai und jüngstes Beispiel ungehemmten chinesischen Fortschrittsglaubens ist der 492 Meter hohe World Financial Tower. Zwischen dem Bau dieses derzeit zweithöchsten Turms der Welt und der Errichtung des Turms zu Babel mit seinen gerade mal 77 Metern Höhe liegen rund 2600 Jahre. Ein in Zentimetern messbarer Fortschritt. Doch jenes mittlerweile archäologisch nachgewiesene antike Bauwerk gilt auch als Symbol menschlicher Hybris: Die Menschheit versucht Gott gleich zu kommen, dieser straft die Völker, die zuvor mit einer Zunge redeten, mit Sprachverwirrung und versprengt sie über den ganzen Erdball. Soweit eine der bekanntesten Erzählungen des Alten Testaments.
Die dem ökonomischen und politischen Liberalismus anhängenden englischen Initiatoren der ersten Weltausstellung von 1851 verstanden sich fraglos als fortschrittlich, warteten sie doch mit technischen Neuheiten zuhauf und einem strukturellen Novum auf: Die herkömmliche nationale Gewerbeausstellung sollte sich in eine internationale Leistungsschau unter dem hochgemuten Motto „Vereinigung des Menschengeschlechts“ wandeln. Das Vorhaben rief Missionare der Weltverbindung, utopische Sozialreformer und Phantasten jeglicher Couleur auf den Plan. Gemeinsam mit Politikern, Industriellen und Händlern brachten sie weltanschauliche Programme hervor, die doch nur ihr konkretes Versagen vor der Wirklichkeit kaschierten.
Jener Fortschrittsoptimismus, den vor fast 160 Jahren der Kristallpalast verkörperte, feiert also fröhliche Urständ, wenn im größten Wachstumsland der Welt wieder Super-Symbole technischen Vermögens im Mittelpunkt des Weltausstellungsgeschehens stehen, signalisieren diese Bauwerke doch ungebrochen jene in unserer Hemisphäre längst begrabene Hoffnung auf unendliches Wachstum. Hat diese Euphorie nicht viel von jener, die in der industriellen Revolution die Erlösung von allem Elend gekommen sah? Die westlichen Weltverbesserungsprogramme führten im 19. Jahrhundert in den Kolonialismus, die Verquickung von Industrie und Kapital geradewegs ins Verderben.
Idealistisch und erstaunlich naiv pries Prinz Albert (von Sachsen-Coburg und Gotha) die erste Weltausstellung im Londoner Hyde Park als „zweites Eden“. Die Vision des Gemahls Königin Viktorias überhöhte Sir Henry Coles pragmatische Idee, andere Nationen zu einer Gewerbeausstellung einzuladen, mit einem utopischen Ziel: Dem Weltfrieden. Und so denkt der „gute Prinz“ sich das: Möglichst alle Völker dieser Erde präsentieren sich auf der technischen und ästhetischen Leistungsschau und lernen einander kennen. Daraus entwickeln sich internationale Handelsbeziehungen, von denen alle profitieren. Der ungehinderte Warenaustausch bringt allen Menschen Wohlstand.
Der Kristallpalast ist der erste Ruhmestempel neuer Prägung, der in einer „Warenschau bislang unbekannten Ausmaßes“ (Sigfried Giedion) dem materiellen Fortschritt und seinen Gütern huldigt. Aus 4500 Tonnen vorgefertigten Eisenteilen, 20 000 Kubikmeter Holz und 270 000 Glasscheiben in weniger als sieben Monaten von 2000 Arbeitern hochgezogen, verzichtet Joseph Paxtons Bau ganz auf tragendes Mauerwerk und ist in seiner innovativen Ästhetik und Funktionalität der gestalt gewordene Fortschritt. Er ist 563 Meter lang und 124 Meter breit und hat zwei Stockwerke. Unter seiner Glaskuppel wird grenzenlose Universalität und Toleranz praktiziert: massives Kriegsgerät von Krupp steht einträchtig neben dem Pavillon des Roten Kreuzes, amerikanischen Mähdreschern und Colts. Sechs Millionen Besucher pilgern in den Hyde Park, um dem wirtschaftlichen und ästhetischen Fortschritt zu huldigen. „Abgelöst vom Boden der Tatsachen, distanziert von der Wirklichkeit erster Hand, können sie ihre Gesellschaftsträume erschaffen“, diagnostiziert der bekannte Wiener Kunsthistoriker Werner Hofmann in seinem Werk „Das irdische Paradies“ (1974). Das neue Ideal der immerwährenden Veränderlichkeit der Welt lässt in Großbritannien Fortschrittseuphorie und Omnipotenzgehabe anschwellen, während Konservatismus Deutschland und Frankreich prägt und dort die Angst vor einer Revolution umgeht.
Als Apotheosen des Fortschritts demonstrierten die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts historisches Bewusstsein und blickten dabei zugleich in die Zukunft wie in die Vergangenheit. Mystische Fortschrittsbegeisterung etwa beherrscht die Weltausstellung 1855 in Paris, die sich als Paradies auf Erden empfiehlt. Ihr Schirmherr „Prince Napoleon“stellt nichts weniger als „die Vermehrung des Reichtums zum Wohle der größten Zahl“ in Aussicht und bedient sich dabei des Vokabulars der Saint-Simonisten, deren „neues Jerusalem“ ein Ort immer währenden Friedens, Wohlstands und der Harmonie ist. Seine drei Fundamente Wissenschaft, Industrie und Religion sind auch die Grundelemente der Weltausstellung. In künstlichen Gärten werden wissenschaftliche Experimente zu okkulten Zauberkunststücken umgedeutet, und der Fortschritt verkommt so zum „Requisit der Massenbetörung“ (Hofmann). Der Homo Faber blickt stolz auf die ununterbrochene Entwicklungslinie seiner Eroberung der Welt.
Zugleich macht sich jedoch schon in der Londoner Weltausstellung zur Jahrhundertwende 1900 angesichts einer Überfülle technischer Neuerungen ein Atmosphäre der Übersättigung breit, in der eine retrospektive Sehnsucht nach den einfachen Wurzeln spürbar wird. Landestypisch hergerichtete Dörfer und in Trachten gewandete Menschen demonstrieren kulturelle Substanz, und romantisch-pittoreske Nachbauten wie etwa die des mittelalterlichen „Vieux Paris“ beschwören eine scheinbar glücklichere Zeit herauf. In einem Riesen-Sammelsurium sticht auch die Nachbildung des barocken Segelschiffbugs „Le Triomphant“ hervor, mit dem die Schokoladenfabrik Meunier für sich wirbt. Als „übrig gebliebene Reste einer vergangenen und symbolischen Ordnung“ bezeichnet sie der Soziologen Jean Baudrillard in seinem Text „Das alte Objekt – Zeit und Dauer“. Ja, er nimmt an, dass sie zu echten Bestandteilen ihrer Zeit mutieren und Partikel einer doppelsinnigen Modernität werden.
Die Weltausstellungen selbst nehmen immer mehr Raum ein: Mit zehn Hektaren hatte es in London 1851 begonnen, und 25 Jahre später findet die „Centennial Exposition“ in Philadelphia bereits auf 115 Hektaren statt. Die 250 Pavillons verlangen nach einem städtebaulichen Konzept, das deren Standorte fixiert. So entstehen temporäre Musterstädte, deren unmittelbare Vorbilder etwa Claude-Nicholas Ledoux und Francois Fourier liefern. Ersterer schrieb der Baukunst den Auftrag zu, den Menschen zu läutern, für Zweiteren sind Gebäude nur interessant im Hinblick auf ihre vielfältigen Aufgaben.
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen hoben die Welt aus den Angeln. Hilflos suchten die Staaten nach tragfähigen neuen Konzepten, und so wandelten sich – wie Thomas Schriefers in seinen Anmerkungen zur Geschichte der Weltausstellungen (ardenkuverlag, 1999) beschreibt – auch die Ziele der Weltausstellungen, die sich seit den Nachkriegsjahren als Leitbilder ihrer Zeit verstanden. Der Versuch, neue Ziele zu definieren, prägte 1925 die „Exposition des Arts Décoratifs et Industriel Modernes“ in Paris. Zugleich spürten Zeitgenossen in den ersten Nachkriegsjahren in vielem eine gewisse Wehmut, „das sehr deutliche Gefühl . . ., von einer anderen Zeit getrennt zu sein, von der des wahren, bequemen Lebens“, wie Robert Kanters in einem Beitrag für Magnum 35 feststellt (Dumont Verlag 1961).
Die Suche nach elementaren Werten und unverbrauchten Quellen stand als Sinnbild über diesen Jahren gesellschaftlichen Neubeginns. Der Kolonialismus, der den „Entdeckern“ und Ausbeutern Afrikas ungeheuren Reichtum gebracht hatte, kostümierte sich auf den Weltausstellungen der 30er Jahre harmlos exotisch. Konfrontation prägte die Jahre nach der Weltwirtschaftskrise 1932, und 1937 bemächtigte sich eine nie da gewesene Propaganda der „Exposition des Arts et Techniques: Auf dem hochragenden sowjetischen Staatenhaus stürmten Mann und Frau – die Skulpturen von Vera Mukhinas verkörpern Industrie und Agrikultur – dem ehernen deutschen Adler entgegen. Hammer und Sichel gegen das Hakenkreuz. Zwei totalitäre Regime demonstrierten ihre Fortschrittsmodelle. Beider Ziel: die Weltherrschaft. Der rhetorisch-ästhetische Schlagabtausch erwies sich nur als Vorgeplänkel des 1939 ausbrechenden Kriegs.
Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs sollte der Fortschritt nicht länger unreflektiert gefeiert werden; folgerichtig lautete das Motto der Weltausstellung 1958 in Brüssel „Bilanz der Welt für eine humanere Welt“.
Der Architekt Hans Schwippert äußerte während der Vorbereitungen des deutschen Beitrags, „dass für uns in Deutschland der Fortschritt eigentlich darin liege, dass wir – im Gegensatz zu früher – arbeiten um zu leben“. Dass eben nicht um der Leistung, der Macht und der Weltgeltung willen gearbeitet werde, sondern um ein freieres sinnvolleres Leben zu ermöglichen.“ Im deutschen Pavillon, den Egon Eiermann und Sep Ruf gestalteten, bemühte man sich, Normalität zu demonstrieren. „Alle standen unterm dem Druck, den richtigen Ton zu finden“, erinnert sich Professor Ernst J. Althoff, als Architekt auf den Weltausstellungen 1958 und 1967 in Montreal verantwortlich für den Bereich Wohnen. „Mich faszinierte das neue Rund-um-Kino der Amerikaner, und ich bewunderte den Sputnik der Russen“, so Althoff. „Gleichzeitig verwies Josef Henselmanns Holzplastik mit dem eingebrannten Satz „Der Herzschlag eines Volkes geht durch ein geteiltes Land“ auf die politische Spaltung der Welt.“ Althoffs Skepsis gegenüber unkritischer Fortschrittsgläubigkeit, Rummel und Bluff schürte Le Corbusiers Philips-Pavillon innerhalb der niederländischen Abteilung. „Er bot kein Programm, wie etwa 1925 seine lebensreformerische Überzeugung im ‚Pavillon de l’Esprit Nouveau’ oder 1937 seinen Aufruf zu einer zeitgemäß organisierten Umwelt im ‚Pavillon de Temps Nouveau’, sondern lud in einen emotional aufgeladenen Erlebnisraum ein, den er mit den Komponisten Edgar Varese und Yannis Xenakis gestaltet hatte“, weiß Althoff zu berichten.
Nur vier Jahre später begann auf der Century 21 Exposition in Seattle ein propagandistischer Stellvertreterkrieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion: Astronaut John Glenn trat in seiner Raumkapsel gegen den Sputnik an. „Man and his World“ hieß das Motto der Weltausstellung in Montreal 1967, die direkt an Brüssel anknüpfte und eine verantwortungsvollere Welt forderte. Rolf Gutbrods und Frei Ottos luftige Zeltkonstruktion kam ohne Wände aus. Das Warenhaus mit seinen Konsumgütern war der übergreifenden Idee einer nach menschlichen Maßstäben gestalteten besseren Welt gewichen, die mit den Ressourcen achtsam umgehen sollte.
Auf das Energie verschwendende Spektakel in Osaka 1970 folgte die umweltbewusste „Expo 74 World’s Fair Spokane“ in Washington. Seit den 90er Jahren zeichnete sich mit Sevilla (1992) und Lissabon (1998) die Wiedergeburt der Weltausstellung in großer Form ab, in der schließlich zur Jahrtausendwende die erste Weltausstellung auf deutschem Boden in Hannover stattfand. Danach sagte Paris 2004 die Weltausstellung ab, 2005 eröffnete die Schau im japanischen Seto.
70 Millionen Besucher werden ab Mai in Shanghai erwartet, wenn es heißt „Better City, better Life“. Ob die staatlicherseits propagierten Ziele der „grünen Stadt“, der nachhaltigen urbanen Entwicklung und des Umweltschutzes mehr sind als bloße Lippenbekenntnisse wird die Zukunft erweisen.