Vidiwalls haben längst die Kuriositätenkabinette und Kaiserpanoramen ins Vergessen gedrängt und begeistern heute die Massen wie die Zauberlaternen einst. Und weil der technologische Fortschritt voranstürmt, tut es not, innezuhalten und zurückzuschauen auf „historische Dinge“. Seit zwanzig Jahren erforscht der weltberühmte Fotograf Thomas Ruff die Frühgeschichte seines Metiers und präsentiert derzeit in einer großen Schau der Kunstsammlung NRW Werke, deren Besonderheit in der raffinierten Kombination von anziehenden ästhetischen Schauwerten und lehrreicher Information liegt. Wir picken nicht wie die Vögel nach den täuschend echt gemalten Trauben des Zeuxis, gehen aber den Bildkonstruktionen des Thomas Ruff auf besonders subtile, inspirierte Weise auf den Leim.
Die großformatigen Porträtfotografien von Schauspielerinnen erscheinen uns nur kurz wie vergrößerte Autogrammbilder, denn Irritationen stechen ins Auge. Der Stempelaufdruck mitten im Frauengesicht bricht den schönen Schein und wirft Fragen auf. So leitet der Fotograf die Aufmerksamkeit des Betrachters auf den respektlosen Umgang mit Archivfotografien, indem er das Archivmaterial digitalisierte und deren Vorder- und Rückseite ineinanderschob.
Thomas Ruff studierte bei Bernd und Hillla Becher an der KA Düsseldorf und wurde in den 1990er Jahren mit seinen Kommilitonen Thomas Struth und Andreas Gursky unter dem Namen „Struffsky“ zur Speerspitze der internationalen Fotokunst-Avantgarde. Seit den 1980er Jahren folgte Ruff konzeptuellen Fragen, die ihn zu einer Fotografie ohne Kamera geführt haben. Des Künstlers Interesse gilt vorhandenen historischen Lichtbild-Materialien und Techniken: Zeitungsbildern, Propagandamotiven, Fotoarchiven und wissenschaftlichen Bildern. So spielt die Serie ma.r.s. mit detaillierten Bildern von der Oberfläche des Mars, die eine HiRISE-Kamera seit vierzehn Jahren aus dem All sendet, mit der Illusion von Nähe. Den Eindruck des Detailreichtums dieser Aufnahmen verstärkt Ruff durch weitere Computerbearbeitungen, die in einer 3D-Darstellung gipfeln.
Seine „Tableaux Chinois“ aus dem Vorjahr – die aktuellsten Beiträge der Schau – entlarven Propagandabilder aus offiziellen chinesischen Medien der Mao-Ära. Ihre Lügen fliegen auf, wenn Ruff von Motiv zu Motiv Offset-Druckraster des letzten Jahrhunderts und Pixelbilder der Gegenwart vereinigt.
Eine Sammlung durchscheinend zarter Blumenfotogramme von Lou Landauer regte Ruff an, historische Fototechniken wie Fotogramm und Pseudo-Solarisation nachzuahmen, indem er ihre einzigartige Ästhetik an Leuchttisch und Computer nachahmte. Gleichzeitig offenbart die „aufgeblasene“ Größe der Motive ihre wahre digitale Herkunft. Ruffs Vorsatz, „altmodischen“ Techniken auf den Grund zu gehen, entspricht auch die Serie „Negative“ der Fotografien von Vaslav Nijinskys Choreographie „L’après midi d’un faune, die Adolphe de Meyer angefertigt hatte. Ruff befreit das Negativ von seiner ursprünglichen Funktion, Mittel zum Zweck zu sein, und erhebt es in seiner Präsentation in den Stand des Originals.
Vor einem Jahrhundert kämpfte die Fotografie noch um ihre Anerkennung als Kunst, ihre Wertschätzung im dritten Jahrtausend drücken hohe Preise auf dem Kunstmarkt aus. Der Siegeslauf der digitalen Fotografie verwischt jedoch den Werdegang und die Vielfalt des Mediums. In der allgemeinen globalen Bilderflut droht das Wissen um die Ursprünge abhanden zu kommen. Umso sinnvoller scheint eine Sensibilisierung für die Geschichte des Mediums zu sein. Vor allem für die „Digitals“ gilt es, die Erinnerung zu suchen, und genau dazu lädt Thomas Ruff mit seinen Serien ein, die Ästhetik, Technik und Wissenschaft verbinden. Ein Fotografie-Pionier wie Karl Blossfeldt konzentrierte sich auf die Ablichtung von Pflanzen für den Schulunterricht, Thomas Ruffs „Ding“ ist die Geschichtlichkeit eines Mediums, das er seziert.
(Bis 7. Februar 2021)