„Ich schneide Sisi neu“, erzählte Christoph Böll mir bei seinem letzten Anruf. Obwohl maßlose Erschöpfung seine vertraute Stimme perforierte, flackerte in ihr noch Hoffnung.
Nun, bei der Nachricht vom Tod des Freundes, dachte ich unwillkürlich an Didi Böll, sein Alter Ego im gleichnamigen autobiografischen Dokumentarfilm. „Geschafft!“, atmet der auf, ist angekommen, damals 1980, als Langstrecken-Rennradler nach seiner magischen Pilgerfahrt von Langendreer ans Mittelmeer, aber erst heute, so viele Jahre, Etappensiege und Niederlagen später, ist er wirklich am Ziel.
Als Sprössling einer rheinisch-katholischen Dynastie mit klingendem Namen tat sich der scheue Student Anfang der 1970er Jahre an der Ruhruniversität Bochum (RUB) schwer, fand aber den Super-8-Film als Ausweg und als Fluchtort den Studienkreis Film an der RUB. In seinen „Lehrjahren“ als Selfmade-Filmemacher experimentierte er mit allen möglichen Utensilien und Materialien, um seinen inneren Bildern filmisch nahezukommen, und entwickelte seine eigenwillige überzeichnende Ästhetik mit sarkastischem Ton.
Die Kamera vorm Auge, beim Filmeinlegen an einem Projektor oder über den Schneidetisch gebeugt, so habe ich Christoph Böll kennengelernt. Er hatte alle Zeit der Welt und Geduld ohne Ende, wenn er in seinem Element war. Stundenpläne existierten dann nicht, weil er wie ein spielendes Kind ganz seinem eigenen schöpferischen Impuls folgte. Mit flinken Fingern fügte er Filmbildchen für Filmbildchen zusammen, gegen den Strich gebürstete Schlagertexte gaben den bewegten Bildern nicht selten den überraschenden ironischen Drall.
Die zwanzig Filme, die bis 1982 entstanden, lassen sich auch als Prozess der Selbstfindung lesen.
Schnell war Christoph Böll aus der Filmszene NRW nicht mehr wegzudenken, deren Zugehörigkeit er noch 2015 mit einer Widmung an Hartmut W. Redottée im Katalog seiner Ausstellung „Pforten der Wahrnehmung“ beschwor. Eine zweite Widmung galt dem Künstler Hans-Jürgen Schlieker, der ihn viele Jahre als väterlicher Freund ermuntert hatte, auch der Malerei treu zu bleiben.
„Der Sprinter“: Christoph Bölls Aufschlag im Jahr 1983. Sein erster abendfüllender Spielfilm, der viel von sich reden machte und preisgekrönt wurde, ist aus heutiger Sicht der erste queere Sportlerfilm der BRD. Bis zu seinem zweiten Spielfilm „Sisi und der Kaiserkuss“ vergingen nicht weniger als sieben Jahre der Drehbuch-Überarbeitungen, die dem Film nicht guttaten.
In seiner filmischen Praxis vollzog der Regisseur die technischen Umbrüche seines Mediums nach und schätzte sich in den letzten Jahren glücklich, im eigenen Schneideraum digital arbeiten zu können. Seine Filmographie ist nicht bloß eine Auflistung von Titeln sondern eine Fieberkurve seines Lebens: Jeder Film ein Fingerabdruck.
Aus dem beeindruckenden Gesamtwerk von Dokumentarfilmen sei Christoph Bölls Tribut-Zyklus für Max Imdahl hervorgehoben, dem er den bedeutungsvollen Titel „Sehenden Auges“ gab. Der Regisseur stemmte sich damit gegen den galoppierenden Gedächtnisverlust – wenigstens für die Dauer von 112 Film-Minuten. In immer enger werdenden Bewegungen wird Imdahl umkreist, er, der Avantgardist unter den Kunsthistorikern seiner Generation. Mit den Mitteln seines filmischen Mediums möchte der Film Imdahls Begriff der „Substanz“ eines Kunstwerks so nahe wie möglich zu kommen. Gute Bilder sind Antworten, und auch bei diesem Film ist der Betrachter aufgefordert, in Imdahlscher Manier die Fragen zu ermitteln, auf die Bölls Filmsequenzen antworten. Im Mittelpunkt, so legen betörend schöne Überblendungen, Mehrfachbelichtungen und Spiegelungen nahe, steht die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Natur. Der Zuschauer soll sich auf Inhalte einlassen, die außerhalb seiner eigenen Lebenserfahrungen einen Sinn machen.
In seiner überschwänglichen Installation „Pforten der Wahrnehmung“ mit dem Musikprojekt Dream Control im Osthaus-Museum Hagen brachte Christoph Böll seine frühen Licht-Ton-Experimente zur Vollendung. Musik und bewegte Bilder zu einer atemberaubenden Symbiose.
Christoph Böll hat uns viel zum Schauen und Nachdenken hinterlassen. Und zu unserem Trost möchte ich seinem Credo glauben, dass man ist, was man sieht, denn so zeigen uns seine Filme immer ihn selbst.