Waren die Erfindungen des olympischen Eröffnungsspektakels nicht „schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“? Also lohnt es sich, die erstaunlichen Bilder dieser Aufführung im öffentlichen Raum näher zu beäugen. Das Zitat entstammt Lautréamonts einflussreichem Werk „Die Gesänge des Maldoror“ und ist eine Inkunabel des Dada und des Surrealismus. Fraglos wirken die Grundsätze dieser Kunstströmung bis in unsere Zeit und beeinflussten offenbar auch die Regisseure Thomas Jolly und Patrick Boucheron, denen es sichtbar um eine radikal andere Umsetzung der in der Olympischen Charta festgelegten Vorschrift geht, „künstlerischer Darbietungen, die die Kultur des Gastgeberlandes repräsentieren“, zu erfinden.
Als „eine Erzählung ohne Worte, um die Fähigkeit einer Stadt zu inszenieren, aus sich heraus Bilder hervorzubringen“, bezeichnet Patrick Boucheron (in der FAZ, 3.8.24) die Eröffnungszeremonie.
Gespielt wird mit vielerlei Gegenständen der Kunst und Geschichte, die im Aufeinanderprall neue Welten eröffnen. Im Gegensatz zur Eröffnung in Peking 2008 will diese Inszenierung keine Parade historischer Erfindungen sein, sondern erklärt die ganze Stadt Paris zur Bühne, und feiert mit allen schaulustigen Pariserinnen und Parisern die Befreiung aus dem Stadion. Die bunten Sportlerscharen auf den Booten der Seine-Prozession, die im strömenden Regen den Menschen unter Regenschirmen zuwinkten, hatten in ihrer dennoch unbändigen Ausgelassenheit etwas von den Feiernden auf Hieronymus Boschs „Narrenschiff“. Die langsam niedersinkende Nacht verdunkelte die wechselnden Szenerien. Nicht Schießpulver und Kompass hatten Jolly / Boucheron im Sinn sondern „Unsinn“, sprich erstaunliche, erschreckende Einsichten.
Die Show huldigt dem Surrealismus in der Stadt, in der er sich entwickelte und heuer seinen hundertsten Geburtstag feiert. Der Surrealismus gehört zu den entscheidenden künstlerischen und literarischen Bewegungen der Moderne. Zwischen 1919 und 1924 bildete er sich heraus und entfaltete unter dem Einfluss von Sigmund Freud weltweit seine Wirkung. Traum und Unbewusstes erweiterten das Kunstschaffen um faszinierende Möglichkeiten. Das bewegte (und bewegende) Spektakel liefert eine Art Prolog zur großen, im September startenden Jubiläumsausstellung im Centre Pompidou. Die Ästhetik des Bilder-Flusses atmet die antibürgerliche Verve der frühen Surrealisten und zeigt so auch auf jene heutigen Stadtbewohner, die naserümpfend vor den Massenveranstaltungen der Olympischen Spiele die Stadt verlassen haben.
Wie im Palimpsest schichten sich die vergangenen Zeiten, aus denen diese Show einzelne Momente heraushebt und collagiert, kommentiert von
Hunderten von Tänzerinnen und Tänzern, die in der gemeinsamen Bewegung der Gegenwart des Lebens huldigen. Ihre Erfinder setzen auf die Schaulust der Menschen, wenn sie verdrängte surrealistische Bilder dem Obskuren entreißen, während auch die groteske Tradition des Grand Guignol und Elemente der Grands Sérials mystérieux im frühen Kintopp aufgerufen werden.
Für befreiende Lebendigkeit opfern Jolly / Boucheron den sogenannten guten Geschmack, und wenn ein blau bemalter Dionysos sich in einem Stillleben räkelt, bleibt ein entspanntes Lächeln nicht aus.
Bekanntlich stemmen Werke des Surrealismus sich gegen ihre Enthüllung eben wie die Figur des Feuer-Boten, der als gesichtslose Chimäre von Fantômas und dem Glöckner von Notre Dame über die Dächer und durch bekannte Bauwerke von Paris hastet. „Das Halbdunkel der ersten Phase surrealistischen Experimentierens wollte enthüllen“, so Salvadore Dali, „einige kopflose Schaufensterpuppen und ein verpacktes und mit Schnur umwickeltes Gebilde, das, unidentifizierbar und äußerst verstörend, auf einer Fotografie Man Rays erscheint“.
Marie Antoinette, ihren Kopf unterm Arm, ähnelt mit ihren entsetzt aufgerissenen Augen im weiß gepuderten Gesicht den Schaufensterpuppen, die Louis Aragon als „modernen Skulpturen“ in der Passage de L’Opéra skizzierte, zitiert ein Kippmoment französischer Geschichte und ploppt vervielfältigt als Pop-Figur auf.
Gabrielle d’Estrées badet ihr Gesicht in den Fluten der Seine, für zwei Wochen der Vergangenheit entrissen. Dieses Gemäldedetail eines unbekannten Malers aus dem Jahr 1594 steht stellvertretend für die unzähligen Kunstwerke, die der Louvre beherbergt, verwandelt sich aber in seiner neuen Umgebung in ein anderes Bild, das im Gedächtnis hängenbleibt.
Auch die Ohrenlust wird in surrealistischer Weise auf die Probe gestellt, wenn eine Musikkapelle, traditionelle Marschmusik intonierend, an einer aufspielenden Heavy Metal-Band vorbeizieht: Schock und Neugier paaren sich.
In silbern leuchtender Rüstung reitet Jeanne d’Arc auf einem Pferd über die Seine und trägt das olympische Feuer dem Ziel entgegen. Die automatisch gesteuerte „Marionette des Unbewussten“, die auch einer von George Romeros Untoten sein könnte, steht in der reichen Tradition der mechanischen Puppen, die sich mit surrealistischen Künstlern wie Hans Bellmer und Max Ernst verbinden.
Nahe liegt das Risiko der Grenzüberschreitung hin zum Kitsch wie etwa bei den goldfarbenen Denkmalstatuen verdienter Frauen der französischen Geschichte, die aus dem Untergrund (der Geschichte) emporgehievt werden, aber sie sind nicht bloß „Spielzeug“ sondern sollen bleiben an neuen Standorten als Mementos der Persönlichkeiten und der Olympischen Spiele 2024.
Der ästhetische Mehrwert des Panoptikums bleibt letztlich die nicht einholbare Phantasie der Autoren, die das Steinmeer Paris mit gefundenen und erfundenen Bildern in einen phantastischen Garten verwandelt.
Das olympische Feuer, Sinnbild für Frieden, hat sich verwandelt in eine leuchtende Montgolfiere, die über Paris schwebt wie ein Fingerzeig auf die Erleuchteten der französischen Aufklärung und erinnert auch an kühne Entwürfe der französischen Revolutionsarchitektur wie den Kenotaph für Isaac Newton von Étienne-Louis Boullée (1784).
Zu beobachten sind aktuelle ästhetische Moden der Gestaltung modernster Technik, die beeindruckend aufgefahren wird. Gleichzeitig ist die Gegenwart der Kriege und Klimakatastrophen präsent, wenn etwa auf einem martialisch brennenden Klavier musiziert wird. Gegen alles, das längst sinkt und nicht steigt, bäumt diese Rieseninszenierung sich auf. Der unvergessliche, wehmütige Kommentar zu allen Darbietungen bleibt der ohne Unterlass niederfallende Regen.
In „Magnetic Fields“ schreiben André Breton und Philippe Soupault im Jahr 1920:
„It was the end of sorrow lies. The rail stations were dead, flowing like bees stung from honeysuckle. The people hung back and watched the ocean, animals flew in and out of focus. The time had come. Yet king dogs never grow old – they stay young and fit, and someday they might come to the beach and have a few drinks, a few laughs, and get on with it. But not now. The time had come; we all knew it. But who would go first?“