Der Künstler Jürgen Rahn und sein gezeichnetes Bilder-Buch „Gedankensprünge“
Sind wir hinter Orphées Spiegel oder bei Alice im Kaninchenbau? Wenn wir die Augen aufschlagen, schauen wir mit Herzklopfen und großen Augen auf nie gesehene Szenerien, die wie im Traum vorüberziehen. Oder sind wir es, die über diese Landschaften fliegen? Mit den Augen über die Gedanken- und Gefühlswelt des Düsseldorfer Künstlers Jürgen Rahn segeln, die er mit leichter Hand anmutig vor uns ausbreitet. Sein jüngstes Werk mit dem skurrilen Titel „Gedankensprünge oder aber man stellt dem Vogel auf dem Dach die Leiter weg“ ist ein 333 Seiten dickes Buch, 23 Zentimeter breit, 33 Zentimeter hoch. Ein wahrhaft gewichtiges Buch, dessen Inhalt so schwerelos ist wie ein Luftballon, dass der Betrachter seinen Blick gar nicht losreißen kann.
Auf dem Titel äugt ein Vogel, der nicht mehr weiß, dass er einer ist, von einem Hausgiebel hinunter. Die Leiter wurde verstellt, und so muss er sich seiner angeborenen Fähigkeit erinnern und fliegen, um die luftigen Höhe zu verlassen. Und der Betrachter hebt mit ihm ab.
In einem Prolog – große Schreibschriftbuchstaben, mit dem Pinsel gemalt – erinnert Rahn auf den chinesischen Landschaftsmaler Wu Tao-tse, von dem es heißt: „Er ging ein in die Landschaft, die er an die Wand des Palastes gezaubert. Er hing hinein, verschwand in ihr und ward nie mehr gesehen. Und vor den Augen des erstaunten Kaisers stand die Leere und das Nichts“ (Otto Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei. 1920) Dem entgegen hofft Rahn, dass seinen Tuschen – bei aller Flüchtigkeit des Malens – eine gewisse Dauer beschieden sei, und entschuldigt sich vorab augenzwinkernd für „Unterstreichungen“ und „Anmerkungen“, malerische Exkurse, die gerade den Charme des Künstlerbuchs ausmachen
Der Künstler spielt mit Mehrdeutigkeit, wenn er eine Steilküste zeigt, die auf dem Blatt steht wie ein mächtiger Bühnenvorhang. Dieser öffnet sich auch, aber anders als erwartet: Die nächste Zeichnung offenbart uns , dass wir aus dem Fenster auf eine Klippe hinunter schauen, hinter der die Sonne über den Horizont aufgeht. Dazu fügt Rahn „Gedankensprünge“ zu Stanislaw Lem und David Hume: Die Grenze der Merkfähigkeit sei die Schranke der Aufrichtigkeit, meint ersterer, und zweiterer stellt fest, dass „jeder Mensch mit gesunden Sinnen“, Eindrücke und Vorstellungen, die zwei Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmung, voneinander zu unterscheiden wisse. Schwierig werde es bei den Vorstellungen: Sind es Erinnerungen oder Einbildungen? Meine der Zeichner , aus Erinnerungen zu schöpfen, solle man ihm mildernde Umstände zugestehen, wenn die Einbildungskraft die Oberhand gewinne. Wir blicken auf ein Blatt, das uns aus der Vogelperspektive auf einen Steilküstenabschnitt mit anbrandenden Wellen blicken lasst. „Das Gezüngel der Brandungswellen schien von dorther zur Unbeweglichkeit erstarrt“, zitiert der Künstler Marcel Proust und kommentiert, dass ein Roman wie „Les Recherches“ in einer deterministischen Welt nie hätte geschrieben werden können. Denn selbst ein alles voraussehender Gott sei überfordert. Die Küstenlinie verwandelt sich in einen Vogel und fliegt mit unserem Vogel über Bäume und Wiesen hinweg. Von starker poetischer Suggestion zeigt sich eine Zeichnung, in der ein Fischer in seinem Boot auf dem Meer schaukelt, als sich die Wellen unvermittelt auftun und ein gelber Fischschwarm in den Himmel schießt, „Wu-wie (lass es geschehen) – auch das geht vorbei, morgen beißen sie wieder““, so der daoistische Spruch. Wu-meng, das Handeln ohne Anstrengung, scheint Rahns Zeichenpinsel beseelt zu haben.
Episoden reihen sich wie Perlen auf eine Schnur, aber sie verschränken sich auch miteinander und legen sich viel-schichtig übereinander. Der belesene Künstler reflektiert über Landschaftsschildungen in der Literatur und schüttelt bekannte philosophische Grundsätze ironisch schmunzelnd durcheinander. Tiefsinnig in den Gedanken, bezaubernd in den Zeichnungen. Unser Vogel begegnet der Vernunft in Gestalt Pythagoras’, und der Fischer einem gleichschenkeligen Dreieick. „Die Vernunft erzürnt nicht nur die Götter“, notiert der Künstler in schwingendem Schreibduktus. Mitreißend treibt Rahn die Geschichten immer weiter, sie drehen formvollendete Pirouetten, schlagen Purzelbäume. Für den Betrachter eine wahre Schau-Lust. Das Dreieck wird vervielfacht bis daraus Vögel zu falten sind, und Rahn versetzt sie an den Orinoco, wo Alexander von Humboldt sie beobachtet. Schon ist das Erzählfenster zu einem neuen Kosmos aufgestoßen. (www.wen-jen-hua.de)