Die Tagebücher des Dziga Vertov
Mit den Filmen und Schriften Dziga Vertovs, des ersten Künstlers und Theoretikers des Dokumentarfilms, verbindet die Filmwelt die Blüte- und Pionierzeit sowjetischer Kinematographie während der zwanziger Jahre. Vertovs Schicksal seit Mitte der dreißiger Jahre ist hingegen vielerorts unbekannt – dabei eröffnet es einen erschütternden Blick in die Mechanismen des stalinistischen Regimes. Im Jahr 2004 jährte sich Dziga Vertovs Todestag zum fünfzigsten Mal. Seine Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1924 bis 1953, die im Verlag UVK Medien im Juli 2000 samt bisher zensierter Passagen veröffentlicht wurden, dokumentieren den geistigen Zermürbungsprozess eines Menschen angesichts massiver Repression.
Von Johannes Leisen
Dziga Vertovs Tagebuchaufzeichnungen beginnen mit einem zuversichtlichen, kommunistischen „Wir“. Das ist im Jahr 1924. Drei Jahre zuvor gründete Vertov die Dokumentarfilmgruppe „Film-Auge“. „Für uns“, erklärt Vertov, „sind all unsere Filmsachen – die gelungenen wie die misslungenen – gleichwertig, da sie die Idee des Film-Auges verwirklichen.“ Der achtundzwanzigjährige gibt sich als optimistischer Kämpfer einer gemeinsamen Sache: „Dem Film-Auge ist es gelungen, den Kampf gegen die bourgeoise Kinematographie aufzunehmen, und wir bezweifeln stark, dass sie – ungeachtet ihrer heutigen weltweiten Stellung – lange unserem revolutionären Ansturm widerstehen kann.“
Seine Tagebücher hat Vertov nicht mit pedantischem Eifer geführt; die Eintragungen weisen unregelmäßige Abstände auf, nicht selten stehen Monate zwischen ihnen. Vielmehr als dass er konkrete Ereignisse protokolliert hätte, hat er Gedankengänge konzeptioneller Art dokumentiert, sich auf anstehende Gesprächstermine vorbereitet oder sich seiner emotionalen Verfassung entäußert.
In den ersten Jahren der Aufzeichnungen stehen jene handfesten Probleme im Vordergrund, die seine Arbeit tagtäglich begleiten. So zeichnet sich hier bereits ein Thema ab, das die Filmgeschichte untrennbar mit dem Namen Vertov verbunden hat: Die Rückwirkung der Aufnahmetätigkeit auf den aufgenommenen Gegenstand. „Jeder Versuch, laufende, essende und arbeitende Menschen zu filmen, endet unweigerlich mit einem Misserfolg“ schreibt Vertov im Jahr 1927. „Die Mädchen beginnen ihre Frisur zu ordnen, die Männer machen Fairbanks- oder Conrad-Veidt-Gesichter“, klagt er keineswegs scherzhaft über das unnatürliche Verhalten der Passanten in Gegenwart einer Filmkamera. Zwei Jahre später stellt der Regisseur den Film Der Mann mit der Kamera vor, der seiner Erkenntnis künstlerischen Ausdruck verleiht. Doch das Thema begleitet auch sein ganzes weiteres Arbeitsleben. „Wie können wir die einzelnen Bild-Teile der Wahrheit so montieren, so organisieren und miteinander verbinden, dass sie nirgendwo verlogen sind, dass jeder montierte Satz und das Werk als Ganzes uns die Wahrheit zeigen?“ fragt Vertov die Seiten seines Tagebuchs 1934. Zwei Jahre später, 1936, schreibt er: „Man muss einen echten Apfel so filmen, dass keinerlei Fälschung möglich ist. In einen echten Apfel kann man hinein beißen und ihn aufessen, in einen künstlichen nicht. Bei einem guten Kameramann muss das sichtbar sein.“
Vertov war ein versessener Arbeiter. In einem Fragebogen der Kommission zur Überprüfung der Angestellten der sowjetischen Institutionen des WZIK (Allunions-Zentralexekutivkomitee) vom September 1918 beantwortet er die Frage „Wie viele Stunden müssen Sie laut Vereinbarung täglich arbeiten, wie viele Überstunden machen Sie?“ mit „Zeitlich ist die Arbeit nicht begrenzt.“ Mit eigenartiger Akribie vertraut er seinem Tagebuch Pläne zur effektiveren Gestaltung seiner Arbeit an. Er träumt von einem „schöpferischen Laboratorium“, das sich „nicht auf zufällig ernannte Mitarbeiter“ stützt, „seine Dreharbeiten nicht auf Luft aufbaut“ und durch einen kontinuierlichen, vernetzten Arbeitsprozess eine „hohe Produktivität ohne Qualitätsverluste“ ermöglicht. Die Tonlage, in der Vertov über „sein“ Laboratorium spricht, wechselt in seinen Aufzeichnungen; mal entwerfen nüchterne Gedanken die Struktur seines Vorhabens, mal motiviert eine fast träumerische Euphorie Vertovs Sätze, mal stellt der Trotz den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen ein entschlossenes Konzept entgegen. Diese nämlich sind mehr als verdrießlich: Bei den Arbeiten an seinem Film Drei Lieder über Lenin in Mittelasien herrschte Flecktyphus, es fehlten Transportmittel und die finanzielle Unterstützung war äußerst unstet. „Manchmal“, berichtet Vertov, „hatten wir drei Tage lang nichts zu essen. Manchmal reparierten wir der einheimischen Bevölkerung Uhren, um uns ein bescheidenes Mittagessen zu verdienen.“ Doch auch in den Studios der Meshrabpomfilm sind die Bedingungen kaum erträglich: Vertonung und Montage des Films finden unter enormem Zeitdruck statt und werden begleitet von „einer Reihe von Erniedrigungen, Beleidigungen, betonter Missachtung, Spott und Mückenstichen der kleinen, aber doch schädlichen […] Leute.“ Nach der Fertigstellung des Films werden neue ambitionierte Vorschläge von der Administration auf abnorme Weise blockiert: „Die Tat stand im Widerspruch zum Wort. Der Form nach Zustimmung, dem Wesen nach Ablehnung.“ Vertov, der sich in seinen Aufzeichnungen ansonsten zurückhaltend gibt, konstatiert, dass alles, „was bisher von einer inkompetenten Administration in Bezug auf die Entwicklung unserer Filmarbeit getan wurde“ als eine „Vernichtung der Arbeitsergebnisse unserer Erfindergruppe“ anzusehen ist.
Am 11. Januar 1935 erhält Vertov den angesehenen Ordern Roter Stern. Doch die Auszeichnung treibt das Wechselspiel zwischen Anerkennung und Erniedrigung nur auf eine höhere Stufe: „Die anderen“, schreibt Vertov und meint damit die – anders als er – in der Spielfilmproduktion tätigen Regiekollegen, „bekommen bessere Produktions- und Lebensbedingungen: Wohnungen, Autos, Reisen ins Ausland, wertvolle Geschenke, höhere Gehälter“. Vertov lebt und arbeitet in einer Wohnung, durch deren Dach sich der Regen drängelt. „Die Wohnungsnachbarn“, schreibt Vertov im Januar 1937, „beginnen, einem mit Verachtung zu begegnen. […] Schließlich hatten sie nach der Verleihung des Ordens auf mein Zimmer gerechnet. In den Zeitungen hatten sie gelesen, dass Ordensträger Wohnungen und alles Mögliche bekommen. Dass ich in diesem Zimmer geblieben bin, bedeutet, dass hier etwas nicht in Ordnung ist.“ Im Dezember 1937 zieht Vertov aus eigenen Mitteln in eine Zweizimmerwohnung. „Ich höre keine Streitereien mehr aus der Küche“, freut er sich und befindet, die neuen Umstände wiegen ihn in den Schlaf „als wäre es ein Märchen“. 1941 soll er endlich von der Regierung ein Arbeitszimmer bekommen. Doch Mark Zeitlin, einer der Organisatoren der allrussischen Filmchronik, nutzt eine Krankheitsphase Vertovs aus, bezichtigt ihn der Untätigkeit und zieht schließlich selbst in das Zimmer ein. Schleichend ändert sich der Tonfall von Vertovs Aufzeichnungen. Zunehmend schreibt er über sich in der dritten Person: „Kommt vielleicht jemand auf den Gedanken, dass Vertovs […] gesamte Vorschläge zu Porträts, zu Filmen über einzelne Menschen abgelehnt wurden?“ [126], formuliert er 1942. Und schon im Februar 1937 notiert er verzweifelt: „Das Herz. Ich habe nie gewusst wo es ist. […] Da ist es. Es schmerzt. […] Aber ich spüre keinen Neid. Ich habe ihn abgetötet. Ich freue mich über die allgemeine Freude. Auch meine Zeit wird kommen. […] Säen! Säen! Säen!“
Tatsächlich säht Vertov mit unermüdlichem Eifer: In den Jahren ab 1939 reicht er hunderte von Vorschlägen ein, doch die meisten werden „nicht einmal einer Antwort gewürdigt“]. Vertov bekommt kaum Arbeit und erhält bestenfalls unangemessene Aufträge. „Ohne Sinn und Verstand versetzt man mich auf völlig unpassende Stellen und lässt mich Arbeiten machen, die meiner schöpferischen Natur völlig fremd sind.“ muss er 1944 feststellen. Er wünscht sich „eiserne Nerven und eine stählerne Gesundheit“ aber gesundheitlich geht es beharrlich bergab; die Erniedrigungen zermürben ihn. Schon im August 1939 hält er fest: „Ich habe einen derartigen Grad von Nervosität erreicht, dass ich in keine Straßenbahn steigen kann. Jede Berührung im Waggon, im Gedränge erschüttert meine Nerven.“ Er arbeitet sehr viel, gönnt sich keine Erholung. Die Hälfte seiner Arbeit, rechnet er seinem Tagebuch 1941 vor, erschöpfen sich „in Beweisführungen, in Versuchen, meine Ideen zu erklären und vor Vernichtung zu retten“. Er möchte Arbeiten wie früher, möchte sich seiner Sache bedingungslos hingeben. „Könnte ich nur bald anfangen zu filmen. Sonst zerreißen die überspannten Saiten meiner Nerven, sonst verliere ich den Verstand“, schreibt er im Oktober 1939. Wie schwer muss es ihn getroffen haben, als ihm von verschiedenen Stellen mit Vehemenz vorgeworfen wird, untätig zu sein.
Im Februar 1940 beantwortet Vertov die selbst gestellte Frage „Kann man an schöpferischem Hunger sterben?“ entschlossen mit „Man kann.“ Doch bis zu seinem Tode hat Vertov noch weitere vierzehn Jahre der annähernden Beschäftigungslosigkeit zu durchleiden. Im Mai 1949 schreibt er eine knappe Autobiographie in sein Tagebuch. Auffällig ist, wie sehr der ansonsten so bescheidene Autor hier alle Errungenschaften seiner Karriere aufrechnet, sich als überdurchschnittlich talentiertes Kind portraitiert. Ein kurze lobende Notiz Charles Chaplins, die dieser Vertov 1931 geschrieben hat, zitiert er hier zum wiederholten Mal. Der gebrochene Künstler, der nicht nur der schöpferischen Tätigkeit entbehren muss, sondern auch der damit einhergehenden Anerkennung und Bestätigung, verschafft sich, erniedrigt, Selbstbestätigung.
Aus seinen späteren Niederschriften spricht die Wut über die Administration, über seine Kollegen, vor allem aber über sich selbst. Nur an wenigen Stellen geben Vertovs Aufzeichnungen Auskunft über die tatsächlichen Gründe seiner Misere. Man muss davon ausgehen, dass er sie selbst nie verstanden hat. Er deutet an, dass durch den überbordenden internationalen Erfolg seiner Filme der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre etliche Freunde durch Neidereien zu Missgönnern verkamen. In einer Art schriftlichem Selbstgespräch, wie sie in den Tagebucheintragungen während der Beschäftigungslosigkeit immer häufiger werden, macht sich Vertov folgende Gedanken: „Wie erklären sie sich […], dass Vertov stets übergangen wird, wenn Dreharbeiten, Szenarios usw. vergeben werden? Ich bin kein Spezialist, doch ein aufmerksamer Beobachter, und einiges weiß ich von meinen Freunden beim Film. Sie sind nicht mutig genug, für Vertov zu kämpfen. Aber das schlechte Gewissen plagt sie. Und manchmal erröten sie vor Scham. Irgendjemand, sagen sie, muss offensichtlich vom Sieg und Erfolg Vertovs profitiert haben; an ihm liegt es nicht, dass seine Arbeit nicht vorangeht.“ Doch er selbst erkennt ganz offensichtlich, dass sie ihm vielleicht aus der Misere heraushelfen könnten, wenn sie nur mutiger wären, doch dass sie wohl kaum an seiner Situation Schuld sind. „Die meisten Ideen konnte ich nicht verwirklichen, weil die Mittler nichts verstehen und gegen mich arbeiten“, lässt Vertov sein Tagebuch 1943 wissen. Diese zitiert er 1944: „Vertov, Sie verletzen die von Ihnen selbst aufgestellten Regeln des Dokumentarfilms. Sie werden weniger dokumentarisch als irgendeiner Ihrer Nachfolger. Wir, die administrative Leitung, sind im Hinblick auf den Dokumentarfilm orthodoxer als Sie.“
Im Anhang des Buches Dziga Vertov – Tagebücher und Arbeitshefte versucht Viktor Listow, die tatsächlichen Gründe für Vertovs Herausfallen aus dem sowjetischen Filmwesen zu finden. Er führt an, dass Vertov zum Film gekommen war, als künstlerisches Talent zu Qualifikation ausreichte und technischer Erfindungsreichtum unerlässlich war. Doch mit dem Anwachsen der Filmindustrie, mit der Verfeinerung der Technik und der Automatisierung und strafferen Organisation der Abläufe, wurde technischer Erfindungsreichtum unwichtig. Das Bild des Regisseurs wandelte sich. „Die Industrie forderte nicht nur künstlerisches Talent, sondern auch Begabungen ganz anderer Art: die Fähigkeit, sich mit den Mächtigen dieser Welt zu arrangieren, Geld zu scheffeln und dabei die Mitarbeiter mit hohen Gehältern und anderen Vergünstigungen, statt mit reinem Enthusiasmus, zu motivieren.“ Die auf Vertov folgende Generation, Eisenstein, Pudowkin und Ermler, hebt Listow hervor, wussten sich zu verkaufen, zu überzeugen. Doch Vertov, der sich selbst als „ehrlichen Dummkopf“ bezeichnet, weist offenbar kaum strategisches Talent auf. Die folgenden Eigenschaften, die er sich selbst zuschreibt, fügen sich nahtlos ins Bild und kräftigen Listows These: „Ich bin von Natur aus Schüchtern. Immer wirke ich schuldig. Mit unsicherer Stimme spreche ich gewöhnlich das aus, wovon ich zutiefst überzeugt bin. Das erschreckt die Leiter. Verfluchte Gewohnheit! Schließlich habe ich genügend Vertrauen in meine schöpferischen Kräfte.“
Es ist grotesk, dass Vertov, der überzeugte Kommunist, der sein unbezweifelbar großes Talent stets bereitwillig in den Dienst des totalitären Staates gestellt hat, von eben diesem so rasch fallengelassen wurde; dass er, der den politischen Thesenfilm erfunden und damit dem Staat große Dienste geleistet hat, später aufgrund desselben Erfindungs- und Entwicklungsdranges degradiert und beruflich vernichtet wurde. Wenn auch aus ganz anderen Gründen, so ist Vertov doch parallel zu zahllosen anderen Künstlern seiner Zeit vom künstlerischen Ausdruck durch ein totalitäres Regime ferngehalten worden; ob nun in der real-sozialistischen Sowjetunion, im nationalsozialistischen Deutschland oder im faschistischen Italien.
Die Misere Vertovs begann, als er nach der Fertigstellung von Drei Lieder über Lenin mit seiner Gruppe den Entschluss fasste, „von der Arbeit am poetischen Film mit allgemeinen Informationen überzugehen zur Arbeit an Filmen über das Verhalten des Menschen“. Die administrative Leitung versperrte ihm diesen Weg. Doch Vertov rückte von der Idee nicht ab. In seinem Bewusstsein verfestigte sie sich als zwingender nächster Schritt. Zu gerne würde man wissen, wie ein solcher Film „über das Verhalten des Menschen“ ausgesehen hätte. Seine Tagebücher verraten über seine Vorstellungen kaum etwas. Doch sie dokumentieren unverfälscht das Verhalten eines Menschen angesichts massiver Repression. Damit gelang Vertov als Schriftsteller wider Willen das, was ihm als Filmemacher verwehrt blieb.