Werkzeugkasten der Diffamierung

Ein Wörterbuch zur deutschen Vergangenheitsbewältigung nach 1945

Ist der 8. Mai 1945 ein „Tag der Scham“, der „Befreiung“ oder der „Niederlage“? Fühlen sich die Deutschen 60 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs als Opfer oder als Täter? Im Wörterbuch des Unmenschen von Sternberger/Storz/Süskind wird 1945 angemerkt: „Soviel und welche Sprache einer spricht, soviel und solche Sache, Welt oder Natur ist ihm erschlossen. Und jedes Wort, das er redet, wandelt die Welt, worin er sich bewegt, wandelt ihn selbst und seinen Ort in dieser Welt.“ Dieser subversiven Kraft der Wörter, gilt ein Projekt, das an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ins Leben gerufen wurde. Es fahndet in der deutschen Sprache nach 1945 nach Relikten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Die drei Sprachwissenschaftler Thorsten Eitz, Karin Berentzen und Reinhild Frenking gehen am Lehrstuhl für deutsche Philologie und Linguistik dem Eigenleben von Schlüsselwörtern, Begriffen und Bezeichnungen des „Tausendjährigen Reichs“ nach, die bis in unser Tage überdauert haben. Im Rahmen eines zweijährigen Projekts der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft (DFG) untersuchte das Wissenschaftlerteam unter Leitung von Professor Georg Stötzel – der schon 2002 mit seinem „Zeitgeschichtlichen Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ aufhorchen ließ – wie sich die Bedeutung eines Wortes gewandelt hat, ob es instrumentalisiert wurde, und wer es in Dienst nahm. „Wir versuchen, eine Tradition von Wortuntersuchungen aufzubauen, die es bisher nur zum Nazi-Wortschatz gab“, erläutert Stötzel das Vorhaben. Damit schließe sein Projekt an das Handbuch von 1998 zum Vokabular des Nationalsozialismus von Cornelia Schmitz-Berning an. „Seltsamerweise gibt es aber bis heute keine systematische Aufarbeitung des Nazi-Vokabulars über 1945 hinaus“, so Stötzel. Bei den Recherchen sind wie schon bei anderen Buch-Projekten zur Sprachgeschichte an der Düsseldorfer Hochschule Studenten im Rahmen von Seminaren einbezogen. Wird eine Wortuntersuchung als Grundlage eines Lexikon-Artikels aufgenommen, so tritt auch ihr Autor namentlich in Erscheinung.
In den 1950er Jahren Geborenen purzelte als Kinder der Ausdruck „bis zur Vergasung“aus dem Mund, wenn sie etwas ausgiebig getan hatten. Welchem historischen Kontext er entwachsen war, wussten sie nicht. Und selbst heute, da sie davon Kenntnis haben, liegt ihnen der Ausdruck noch manchmal auf der Zunge. Ausmerzen“ nennt ein japanischer Freejazzer seine aktuelle CD: Ahnt er nicht, dass James Bond nicht der erste war, der etwas mit Stumpf und Stil ausrotten wollte, oder wählte er das Wort gerade wegen seinemenschenverachtenden Geschichte?
„Sprache ist mit schuldig“, stellte direkt nach dem Krieg der Publizist und US-Presseoffizier Hans Habe fest und forderte zur Entnazifizierung der Sprache auf. Dieser vermeintlich sprachkritische Ansatz wurde in den 1970er Jahren zurück gewiesen: nicht Wörter seien verdorben sondern diejenigen, die sie im Munde führen. Nun begibt die aktuelle Untersuchung sich auf die Spur der semantischen Agenten braunen Gedankenguts, um sie ein für allemal zu enttarnen. „Es geht auch um die sprachliche Bewältigung dieser Vergangenheit“, gibt Professor Stötzel zu bedenken. Geschichtsvokabeln wie ‚Reichstag’ und ‚Wehrmacht’ sind immer Geschichtsdeutungs- und damit Selbstdeutungsvokabeln.“ „Bundestag“ und „Bundeswehr“ haben ihr Erbe angetreten. Und jeder, der weiß, dass die meisten Deutschen Hitler gewählt haben, wird kaum mehr von „Machtergreifung“ sprechen. In der Tagespolitik, resigniert Stötzel, würden belastete Vokabeln oftmals gegen den Begriff gedreht oder bewusst gewählt, um den politischen Gegner anzugreifen.
Das Wort Reichskristallnacht etwa ist zynisch-ironische Verkehrung ins Gegenteil und diffamiert die Opfer. Ähnlich unerträglich der Begriff Auschwitz-Lüge, der ein Beispiel ist für rassistische und belastete Vokabeln, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen verbinden. „Kassen-Zecke“, „Hühner-KZ“ und „Gestapo-Methoden“ gehören in diese Gruppe. Andere Vokabeln segeln bislang unerkannt unter falscher Flagge: Worte wie „Mischehe“ haben ungeahnte Karrieren hinter sich. Indem die Wissenschaftler erkunden, in welchem ursprünglichen historischen Zusammenhang sie entstanden sind – etwa in der NS-Rassenlehre – und wo sie in der Zeit seit 1945 wieder auftauchen, ziehen sie daraus Rückschlüsse. Wie bewusst oder unbewusst Denkmodelle der NS-Ideologie reproduziert werden, offenbaren Worte wie „Großraum“. Wer es heute im Verkehrsfunk hört, vermutet nicht, dass es im zweiten Weltkrieg in Rundfunkdurchsagen über feindliche Bombenangriffe benutzt wurde. Und das Wort „Endlösung“ bezeichnete in der NS-Diktatur nicht weniger als die Ermordung von sechs Millionen Juden.
Das Lexikon wird in einzelnen Artikeln aufzeigen, wie NS-spezifische Vokabeln seit 1945 verwendet, thematisiert und öffentlich diskutiert werden. Texte in Zeitungen, Zeitschriften, Politmagazinen und in Fachliteratur sowie Gerichts- und Bundestagsprotokolle bilden die Grundlagen der Recherche. In einem ersten Schritt wird eine Art Lexikon von etwa 150 Wörtern der Gegenwartssprache erarbeitet, die Bezüge zum Dritten Reich haben. In einem zweiten Schritt soll dann die Geschichte dieser Worte erforscht werden. Ziel ist eine empirisch-verlässliche Untersuchung. „Wir wollen natürlich auch die These vom Weiterwirken des gedanklichen Gifts der Vokabeln prüfen“, betont Professor Stötzel. Sichtbar werden müsse, wer wann in welchem Zusammenhang welche Vokabel verwendet habe. Schließlich soll mithilfe der Vokabelliste auch eine Geschichte der Nazi-Vergleiche angelegt werden. Die DDR etwa wird schon früh als „Ulbrichts KZ“ bezeichnet, haben bisherige Studien gezeigt.
Vergiftete Wörter sollten vergraben werden wie schmutziges Geschirr und nach einiger Zeit wieder hervor geholt, schreibt der von den Nazis verfolgte Dresdener Romanist Victor Klemperer in seinen Tagebüchern. Und notiert weiter: „Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen ist.“ Die „kleinen“ Wörter mit ihrem ganzen Ballast genauer anzuschauen und einzuordnen, bedeutet, zur Aufklärung beizutragen.

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