„Corona in Wahnistan“ von Hans Peter Thurn
„Bei manchen Wahrheiten genügt die Überzeugung nicht, man muß auch erreichen, daß sie empfunden werden. Zu diesen Wahrheiten gehören die der Moral.“, schreibt Montesquieu in seinen Persischen Briefen (1721)
König Friedrich II, der keiner sein will und – zum Herrschen gezwungen – ein „großer“ wird, legt, angeregt vom französischen Vorbild im Jahr 1760 seine Kritik an den Sitten und Unsitten der Zeit seinem Pseudonym Phihihu in den Mund, den vermeintlichen Gesandten des Kaisers von China, und gibt vor, dass Relation de Phihihu Emissaire de l’Empereur de la Chine en Europe, traduit du Chinois im fingierten Kölner Verlag Pierre Marteau erschienen sei.
So weit geht Hans Peter Thurn in seiner Parabel „Corona in Wahnistan“ nicht, denn den Sassafras-Verlag, in dem das Büchlein Ende des Vorjahres herauskam, gibt es. Aber ansonsten lassen sich augenzwinkernde Anleihen nicht übersehen. Etwa, wenn der Düsseldorfer Kunstsoziologe, um seine kritische Sicht aufs Pandemie-Geschehen auszudrücken, den Kaiser von China auferstehen und im Gespräch mit seinem Hofrat einzelne Missstände erörtern lässt.
Geschrieben im Sound alter Chroniken, erfährt der Leser, dass irgendwann Deutschland sich erneut geteilt habe und die beiden Landesteile am Tropf der einstigen Schutzmächte hingen, bis diese sie letztendlich an China verkauften.
Beim Antrittsbesuch in seiner neuen eurochinesische Exclave sieht der Kaiser sich Abgründen menschlicher Existenz konfrontiert, die im Brennglas seuchenbedingter Einschränkungen überdeutlich aufscheinen. Im einfachen Frage-Antwort-Dialog zwischen einem kindlich-weise fragenden Kaiser und den mehrdeutigen, orientierungslosen Antworten seines Hofrats blitzen die alltäglichen Absurditäten in der Pandemie umso deutlicher auf. Die Isolation in der Quarantäne entgegen dem menschlichen Grundbedürfnis nach Mit-Menschen und der Schutz vor dem Virus , der den Notwendigkeiten der Wirtschaft widerspricht, werden u.a. behandelt. Arbeitsverhinderer und Arbeitserreger, Warteschlangen und Aggressionen, das Serum, das nicht verfügbar ist, die Impfung, die nicht alle wollen. Das Dilemma der Alten und Kranken, ihre Angst ums Leben und die Sehnsucht der Jüngeren nach direkten Kontakten: Alle Themen, die uns nun schon zehn Monate bewegen, kommen kurz zur Sprache. Slapstick-Momente mit doppeldeutigen Worten lassen schmunzeln, zumal ein utopischer Ausblick nicht fehlt: eine gemeinsame friedliche Welt, die den Ermahnungen Gretas folgt. Das Licht des Orients erleuchtet den Okzident und liefert einen Beitrag zur theoretischen wie zur praktischen Zivilisierung.
Der Krefelder Künstler Jürgen Rahn illustrierte den Text mit zwölf feinnervigen Tusche-Zeichnungen à la chinoise.
IRMGARD BERNRIEDER