ZUR 40. JUBILÄUMSAUSGABE DES MOERS FESTIVALS
New Jazz? Was war das nochmal? Burkhard Hennen, gab 1972, ganz auf der Höhe der Zeit „seinem“ Festival diesen Namen. Im Nachhinein betrachtet, tat er gut daran, „sein“ Festival, das er mit nichts als einer Hand voll Freunden und Begeisterung aus dem Boden stampfte, irgendwann – auch ein wenig identitätsheischend – in Moers Festival umzubenennen und, dem Zeitgeist folgend, über die Grenzen des Jazz hinauszuschauen. Fruchtbare Kreuzungen der improvisierten Musik mit anderen Musikströmungen wie ethnischen Klängen und Weltmusik bereicherten das Programm und verjüngten das Publikum des musikalischen Pfingst-Marathons im Zirkuszelt. So spiegeln die Programme vier Jahrzehnte auch internationale Musikgeschichte.
Burkhard Hennen hatte, seit das Festival Jahr um Jahr tausende zahlende Zuhörer ins Zelt und um ein vielfaches mehr Zaungäste in den Stadtpark gelockt hatte, mit den Stadtpolitikern unbeirrbar um einen angemessenen finanziellen Beitrag aus dem Stadtsäckel und vier Festivaltage gekämpft, die Konflikte mit der Moerser Stadtpolitik sind Legende. Hennen setzte sich durch, bis er das Kämpfen dick hatte und sich zurückzog. Was es für ihn bedeutet haben mag, „sein“ Baby anderen zu überlassen, ist schwer zu ermessen. Reiner Michalke wurde sein Nachfolger und vermochte neue Akzente zu setzen. Die Finanzkrise der Kommunen zwang ihn freilich zu einem Zugeständnis: Die Jubiläumsausgabe des Moers Festivals endet am Sonntag Abend. Um den bitteren Beigeschmack dieser Entscheidung etwas zu mildern, lädt Helge Schneider (als durchaus ernst zu nehmender Jazzer) am Montag Abend zu einem „Heimatabend“ mit regionalen Musikern.
Zu 40. Geburtstag sei hier noch einmal ein kurzes Interview mit Reiner Michalke zu lesen.
Drei Fragen über die Stille in der improvisierten Musik
ibe:Geräusche umbranden uns heutzutage bis zum Ertauben. Unermesslich laut, aber auch unendlich differenziert. Der Free Jazz begehrte in den 1970er Jahren gegen den kammermusikalisch geprägten Jazz auf, und die Musiker drückten ihre neu gewonnene Freiheit in einer unbändigen Lust wild und regellos aus. Diese damals neue intensive Vielstimmigkeit hat sich bis heute weiter entwickelt. Welchen aktuellen Strömungen messen Sie Bedeutung zu?
RM: Das Aufkommen des so genannten „Free Jazz“ in Europa war Ergebnis einer eigentlich ganz folgerichtigen Entwicklung nicht nur in der Musik, sondern auch in der gesellschaftspolitischen Realität der späten 60er Jahre. In einigen Ländern Europas passte die Auflösung aller musikalischer Regeln zu den damaligen Zielen der Studentenbewegung. Der Free Jazz war also die passende Begleitmusik zur angestrebten gesellschaftlichen Revolution. In den Ausläufern dieser Phase entstand ja auch das Moers Festival. Musikalisch inspiriert waren die hiesigen Musiker allerdings von amerikanischen Vorbildern wie Albert Ayler, Thelonius Monk und vor allen Dingen John Coltrane.
Was mich schon damals, als ich später dazu kam – ich gehöre der 78er Generation an – störte, war die Tatsache, dass sich der europäische Free Jazz mit dem freiwilligen Verzicht auf Melodie und Rhythmus ohne Not eine Regel auferlegte und sich damit wieder Freiheit genommen hat.
Auf ihre Frage bezogen heißt das, dass sich der klassische Free Jazz nicht weiterentwickeln konnte, weil er selbst erklärtermaßen Endpunkt einer Entwicklung war. Inzwischen hat sich lediglich in diesem speziellen Stilbereich die Spreu vom Weizen getrennt, und der Weizen – um im Bild zu bleiben – hat Melodie und Rhythmus als musikalisches Mittel wieder entdeckt. So scheut z.B. Peter Brötzmann heute nicht mehr davor zurück, melodische Passagen in seine grandiosen Improvisationen einzuflechten. Diese aus einer Reaktion geborene Musik würdigte die Stille ganz im klassischen Sinn: aufgeladen mit Erwartung und dem Versprechen auf Erlösung, gestaltete sie Musik. Hingegen reduzieren die aktuellen Vertreter der neuen improvisierten Musik die musikalischen Ereignisse und geben so der Stille mit wenigen Geräuschen und Tönen eine Gestalt. Die Linearität der Musik wird immer brüchiger und zerfällt schließlich in selbstständige Fragmente.
ibe: Was bedeutet die Stille in diesem Kontext? Pause, Nicht-Ereignis? Das Ende der Töne? Verstummen als existentielle Größe? Nullpunkt? Bekenntnis zur Leere, Tabula Rasa? Neuanfang aus der Leere?
RM: Pause und Tacet waren immer schon ein Stilmittel der Musik. Über alle Epochen und Generationen hinweg gab es Komponisten und Konzeptionisten, deren Ziel es war, durch Andeuten und Weglassen, Melodien in den Köpfen ihrer Zuhörer auszulösen. Manchmal geht es dem Musiker auch einfach nur darum, durch Verknappung Spannung auszulösen. „Einfach“ hier bitte in Anführungszeichen!
Die Situation der Musiker in den 60er und 70er Jahren kann man nur schwer mit der heutigen vergleichen. Unterstellt man, dass die Improvisierte Musik immer auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in Kultur und Politik reflektiert, und oft ein abstraktes, non-verbales Gegenmodell zum herrschenden Regelwerk anbietet, muss man feststellen, dass es die Musiker heutzutage sehr viel schwerer haben. Damals war es einfach, Regeln zu brechen, weil es nur wenige gab. Heute gibt es nicht nur ein Regelwerk, gegen das man verstoßen könnte. Es gibt eine Kakophonie von gleichzeitigen Ereignissen und musikalischen Zuständen. Führt ein junger Musiker seine Musik an den Rand von Stille und Bewegungslosigkeit, geht er heute damit das größtmögliche künstlerische Risiko ein und positioniert sich gleichzeitig damit am entferntesten Punkt vom Mainstream.
ibe: Es gibt es derzeit nicht wenige Musiker, die das Verstummen als Kontrast wählen und ihr Schweigen gegen das unaufhaltsame Palaver und den formelhaften Zwang zu Rede und Gegenrede setzen. Wer sind Ihre Favoriten?
RM: Im Musikbereich ist es John Cage, der die Stille in ihren vielfältigen Formen erforscht und kompositorisch umgesetzt hat. In der deutschsprachigen Literatur war es Heinrich Böll, dessen „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ mir schon zu Schulzeiten viel Spaß gemacht hat.